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Das Spiel der Nachtigall

Das Spiel der Nachtigall

Titel: Das Spiel der Nachtigall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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um ihre leeren Börsen wieder vollzumachen. Dabei reicht der Verdienst von uns kleinen Leuten kaum für das tägliche Brot. In meinem Dorf stirbt fast jeden Monat ein Kind an Hunger. Unser Dorf wäre bald leer, wenn Kinder nicht der einzige Reichtum für uns arme Leute wären, das kannst du mir glauben. Außerdem, wenn alles so ungeklärt bleibt, dann werden es sich meine Auftraggeber dreimal überlegen, ob sie ihre Waren nicht besser in ihrer Umgebung verkaufen und meine Dienste nicht mehr brauchen.«
    »Nun, es wird gewiss bald wieder einen Kaiser geben.«
    »Meinst du das Kind, Bruder? Das in Apulien?«
    »Sizilien, und nein, eigentlich …«
    »Weh dir, o Land, dessen König ein Kind ist«, zitierte der Schiffer wie die Schankgäste von Köln. Anders als sie wollte er jedoch keinen Sachsen auf dem Thron sehen und auch keinen Zähringer. Er hatte nichts gegen Herzog Philipp, doch auch nichts für ihn, und fand, es sei Zeit, um endlich die Welfen ans Ruder des Reichsbootes zu lassen, wie er sich ausdrückte.
    »Ich dachte, Ihr mögt keine Norddeutschen? Der älteste Sohn Heinrichs des Löwen ist Pfalzgraf von Braunschweig«, sagte Walther, weil er neugierig war, ob überhaupt bekannt war, dass Heinrich der Löwe mehr als einen Sohn gehabt hatte. Sein Schiffer winkte geringschätzig mit der Hand.
    »Das tut nichts zur Sache. Heinrich der Löwe war auch Herzog von Bayern. Er hat einiges in die Wege geleitet bei uns, Städte wie München und Landsberg gegründet, das war immer gut für den Handel. Da müssen die Söhne etwas von den vernünftigen Eigenschaften geerbt haben!«
    »Wie viele Söhne hatte er denn?«, fragte Walther beiläufig.
    Der Schiffer krauste die Stirn. »Zwei oder drei? Ganz ehrlich, genau weiß ich das nicht. Einer war mit König Richard auf Kreuzzug … oder ist jetzt auf Kreuzzug? Auf jeden Fall hat ein Mann wie der alte Löwe bestimmt heldenhafte Söhne.«
    Allmählich fragte sich Walther, ob der gute Ruf von Heinrich dem Löwen daher rührte, dass er die letzten zwei Jahrzehnte seines Lebens fern des Reiches verbracht hatte und daher auch nicht in der Lage gewesen war, irgendjemanden hier zu enttäuschen. Ähnliches galt für den Rest der Welfen. Er konnte es selbst in den Fingerspitzen zucken spüren, denn die Geschichte vom verbannten Beinahe-König und dem Welfen-Prinzen, der zurückkehrt, um endlich das Erbe seines Vaters anzutreten und das Reich zu erlösen, die hatte mehr, als es die Geschichte vom Bruder eines toten Kaisers haben konnte, der – ganz gleich, wie man es drehen oder wenden mochte – gerade dabei war, seinem vaterlosen Neffen das Erbe wegzunehmen. So jemand eignete sich in Heldenliedern bestenfalls zum Schurken, während verbannte Prinzen geradezu gemacht waren für die Heldenrollen.
    Er hatte seine Pergamentbögen bei sich, die ihm Philipp überlassen hatte; sie waren immer noch unbeschrieben. Es war etwas gleichzeitig Erregendes und Besänftigendes, neues Pergament zu fühlen, nicht bereits tausendfach beschriebenes und wieder abgeschabtes, sondern frisch gegerbte, mit Bimsstein geglättete und mit Kreide geweißte Lämmerhaut. Manchmal glitt Walther mit seinen Händen darüber und malte sich aus, darauf zu schreiben, doch bisher hatte er es nicht über sich gebracht. Die Lieder, die auf diesem Pergament entstanden, sollten seine besten sein.
    Es kam ihm in den Sinn, dass Herzog Friedrich tatsächlich sterben konnte. Trotz Philipps düsterer Formulierung war Walther die Möglichkeit sehr unwahrscheinlich erschienen. Der Herzog war in seinem Alter und hatte immer nur so vor Gesundheit gestrotzt. Wenn aber selbst so ein Mann wie der Herzog sterben konnte, dann konnte auch Walther sterben, nicht durch wütende Zuhörer, Räuber oder unberechenbare Ritter, sondern an einer Krankheit, jederzeit, überall.
    Friedrich war nicht vollkommen, aber aus der Ferne betrachtet, erschien er Walther als der beste der großen Herren, die er bisher kennengelernt hatte. So mancher wäre angesichts dessen, was Friedrich beim Tod des alten Herzogs hatte herausfinden müssen, verbittert und hätte seine neu gewonnene Macht genützt, um dieses Gefühl am Rest der Welt auszulassen. Friedrich aber hatte sogar den Wunsch des alten Herzogs erfüllt und seinem Bruder klaglos die Steiermark überlassen. Überdies hatte er auch guten Geschmack bewiesen und Walthers Lieder von Anfang an geschätzt, noch ehe sie ihm nützen konnten, und überhaupt sehr viel mehr Vertrauen gezeigt in seines Sängers

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