Das Spiel der Nachtigall
seien die Worte des Papstes echte Peitschenhiebe. Walther versuchte, ihn zu beruhigen, doch seine Stimme ertrank in dem allgemeinen Schluchzen. Er hielt Martins Hand und spürte noch ein weiteres Aufzucken. Dann erstarrte sein Freund; die Grimasse des Entsetzens und der Qual auf seinem Gesicht wurde zu Stein.
»Der Teufel hat ihn geholt«, schrie Wolfgers Schreiber, der neben Walther gestanden hatte, und zeigte auf Martin, bis Walther seine Augen schloss und zu dem Mann im weißen Gewand blickte, der immer weiter predigte, unaufhaltbar wie eine der Berglawinen, denen sie entkommen waren. Die Nächstenliebe erwähnte er mit keinem Wort.
Worte, dachte Walther, Worte als Waffen, Worte als Geißeln. Aber nicht in Latein, Euer Heiligkeit, und nicht von einer Kanzel. Er wusste nicht, wer der nächste deutsche König werden würde; vielleicht kümmerte es ihn weniger, als es sollte. Hier beanspruchte gerade ein neu gekrönter Papst alle weltliche und geistliche Macht für sich, über alle Menschen des Erdkreises, egal wo und wer sie waren. Was Walther aber wusste, während Martins Hand noch warm in der seinen lag, war dies: Diesen Papst, der sich selbst für würdig hielt, das Jüngste Gericht zu verkünden für alles, was er Sünde nannte, und darüber zu richten, wer gut und böse war, anstatt dies dem Herrgott zu überlassen, würde er zum Spott all jener machen, die von nun an seine Worte hörten. Der Zorn auf den Zustand der Welt, der in Walther gewachsen war, nicht erst, seit sie die Toten am Straßenrand gefunden hatten, nicht erst, seit er durch verbrannte Dörfer geritten war, sondern seit er erlebt hatte, wie leicht aus feiernden Menschen Mörder werden konnten, dieser Zorn fand endlich ein Ziel, ein gewaltiges Ziel, das kein Mitleid verdiente. Das größte, das es in der Welt gab.
Und fraget Gott, wie lang’ er wolle schlafen?
Sie hintertreiben sein Werk’ und fälschen seine Wort’:
Sein Kämmerer veruntreut seinen Himmelshort,
Sein Mittler raubet hier und mordet dort,
Sein Hirte ward zu einem Wolf ihm unter seinen Schafen.
Kapitel 22
M arie von Brabant war keine Frau oder eine Heranwachsende: Marie war ein Kind von gerade acht Jahren. Niemand hatte daran gedacht, dies Judith gegenüber zu erwähnen; der Anblick des kleinen Mädchens, das Otto heiraten sollte, traf sie wie ein Schlag. Damit hatte sie nicht gerechnet, als sie ihren Auftrag von Irene erhielt, noch, als es ihr gelungen war, sich am Hof von Brabant einzuschmuggeln.
Sie verbot sich, töricht zu sein. Unter Fürsten wurden Kinder wie Faustpfänder ausgetauscht und verlobt. Solche Versprochene traten erst dann vor den Priester, wenn die Mädchen mindestens zwölf und die Knaben vierzehn Jahre alt waren. Ob die Ehe zwischen Otto und der Erbin von Brabant nun zustande kam oder nicht, Marie würde noch Jahre vor sich haben, in denen nichts anderes von ihr erwartet wurde, als zu spielen, zu lernen, was für eine Edeldame angemessen war, und zu lächeln. Es war nicht nötig, sich Sorgen um sie zu machen; und deswegen war sie auch nicht hier.
Es war für Judith nicht einfach gewesen, Irene wiederzusehen. Nicht, weil die junge Herzogin sich rachsüchtig gezeigt oder ihr den Empfang verweigert hätte, sondern, weil Irenes Schwangerschaft sie an Richildis erinnerte und an ihr eigenes Versagen. Immer wieder stellte sie sich vor, wie ihr auch Irene unter den Händen wegstarb, und all die geleerten Becher mit beruhigender Melisse halfen ihr nicht dabei, besser zu schlafen. Es gab zwar eine bewährte Hebamme in Hagenau und einen Arzt, der in Diensten der fürstlichen Familie stand, doch Philipp hatte die Wahl kurzerhand nach Thüringen verlegt, was ihm die Stimme des Erzbischofs von Magdeburg einbrachte. Die Krönung sollte dann in Mainz stattfinden, dem neben Köln bedeutendsten Bistum auf dem alten fränkischen Gebiet. Philipp hoffte, dass bis dahin auch der Mainzer Erzbischof vom Kreuzzug zurück wäre und dass Adolf von Köln sich dann nicht weiter ohne dessen schriftliche Legitimation als sein Bevollmächtigter ausgeben konnte. Natürlich würde Irene ihn in ihrem Zustand nicht begleiten, aber das bedeutete auch, dass sie mit nur ein paar Hofleuten, der Hebamme und dem Gesinde zurückgelassen würde. Alles Mögliche konnte geschehen.
Zugegeben, der Erzbischof von Köln würde nicht auf die Idee kommen, mit einem Stoßtrupp aufzutauchen um Irene als Geisel zu nehmen, dafür war Hagenau allein schon wegen der Reichsinsignien zu gut bewacht, doch Otto
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