Das Spiel der Nachtigall
wäre gewiss auch zu solchen verrückten Versuchen fähig, und Judiths Phantasie spielte ihr eine Zukunft vor, in der einer hochschwangeren Irene jede Hilfe verweigert wurde, oder eine Zukunft, in der sie Irenes einzige Hilfe war und versagte, wie sie es bei Richildis getan hatte. Sie wusste nicht, was schlimmer war, und sie konnte niemandem davon erzählen, denn wenn sie in ihrer neuen Umgebung Zweifel an ihren Fähigkeiten als Ärztin weckte, dann war es um ihren Lebensunterhalt geschehen. Als Irene sie überraschenderweise bat herauszufinden, ob Otto bereits um die Erbin von Brabant geworben hatte, und einen Keil dazwischenzuschlagen, nahm Judith die Herausforderung gerne an. Es würde ihr Zeit geben, wieder zu sich selbst zu finden.
Die Herzogin von Brabant residierte in Abwesenheit ihres Gemahls mit ihren Kindern in Brüssel. Von Irene mit Geld und Pferden ausgestattet, brach Judith mit Gilles auf und erreichte die Stadt ohne größere Schwierigkeiten. Nur einmal kam es zu einer schweren Stunde, als sie mit einem Tuchhändler reisten, der wegen der unsicheren Zeiten viele mit Streitkeulen, Spießen und Knüppeln bewaffnete Knechte mitgenommen hatte, doch froh um ein wenig Gesellschaft und den Austausch von Neuigkeiten war. Er kam ursprünglich aus Frankfurt, hatte jedoch in Köln haltgemacht und dort gehört, dass der Erzbischof nun auch so schnell wie möglich die Wahl eines neuen deutschen Königs anstrengte. Von geflohenen Geiseln erzählte er nichts, dafür aber von einem Salzhändler, der seine teure Gemahlin durch eine Hexe im Kindbett verloren hatte. In Judith verkrampfte sich alles. Doch der Tuchhändler fuhr fort: »Die Dienstmagd war’s, denkt Euch. Hat wohl gehofft, selbst die Herrin werden zu können.«
»Was?«, fragte Judith aufrichtig verblüfft und entsetzt.
»Nicht zu fassen, wozu diese Weiber imstande sind, nicht wahr? Euer Gatte sollte sehr vorsichtig sein, wen er einstellt.«
»Und wie hat man es herausgefunden?«, fragte Judith bestürzt. »Ein ehrenwerter Kaufmann namens Stefan hat dem Salzhändler einen Beileidsbesuch abgestattet und dabei die Magd ertappt, wie sie Beweise vergraben wollte. Das Weib ist dann sehr schnell vor Gericht gestellt und gehängt worden.«
Judith wurde übel.
Das Schlimmste war, dass sie genau verstand, warum Stefan es getan hatte: Er musste von Richildis’ Tod gehört und sehr viel schneller als Judith erkannt haben, zu was es führen konnte, wenn man der jüdischen Ärztin die Schuld gab. Wenn er wirklich den Salzhändler besucht hatte, dann musste er den Haushalt so vorgefunden haben, wie sie ihn überstürzt verlassen hatte, mit zwei Mägden, die sie bereits anklagten. Also hatte er die Beschuldigung umgedreht und jemanden als Sündenbock präsentiert, der keinen Verteidiger haben und sterben würde, ohne die jüdische Gemeinschaft in Gefahr zu bringen.
»Dein Onkel muss dich doch sehr lieben«, sagte Gilles zu ihr, als sie den Tuchhändler wieder verlassen hatten, denn auch er hatte begriffen, was sich in Köln ereignet haben musste.
»Ich hoffe, er hat es für uns alle getan, nicht nur für seine kaufmännischen Interessen«, sagte Judith. Wieder und wieder ging ihr der Eid durch den Kopf, den sie in Salerno geschworen hatte. Nun waren ihretwegen nicht nur eine, sondern schon zwei unschuldige Frauen tot.
Gilles beließ es dabei. In schweigender Übereinkunft erwähnte keiner von ihnen die Ereignisse von Köln mehr, bis sie in Brüssel eintrafen.
Wie sich herausstellte, hatten sie Glück, denn man wartete am Hof bereits auf Nachricht von Graf Otto; außerdem hatte die Herzogin Mathilde eine große Feier vorbereitet, um ihren Gemahl zu ehren, da Nachricht aus dem Heiligen Land gekommen war, dass er mit dem restlichen Heer die Städte Sidon und Beirut erobert hatte.
»Unser Herzog«, sagte der Haushofmeister, der Judith zu der Herzogin brachte, zufrieden, »ist der Einzige von den Fürsten, der geblieben ist, um für die Ehre Christi zu streiten, statt Hals über Kopf alles im Stich zu lassen, als bekannt wurde, dass der Kaiser gestorben ist. Alle anderen kamen umgehend ins Reich zurück, um neues Land und Titel an sich zu raffen . Er sollte König werden, aber er ist einfach ein zu bescheidener, frommer Mann, um an sein eigenes Wohl zu denken.«
Dafür, so schien es, hatte Hans von Brabant dann auch seine Gemahlin, eine große, tatkräftige Dame, die Judith voller Ungeduld empfing. »Es wird aber auch Zeit. Ich will nicht hoffen, dass Graf Otto
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