Das Spiel der Nachtigall
spricht für Graf Otto, dass er eine Frau schickt«, sagte die Herzogin, »für diese Art von Untersuchung. Steht Ihr schon lange in seinen Diensten?«
»Ich bin erst im vergangenen Jahr aus Salerno zurückgekehrt«, erwiderte Judith, was der Wahrheit entsprach und gleichzeitig keine Antwort auf die Frage der Herzogin war. Es fiel Mathilde nicht auf. Sie schickte die anderen Kinder mit einer Magd fort und teilte Judith mit, sie möge mit der Untersuchung beginnen.
Es war auf seltsame Weise beruhigend, etwas tun zu können, bei dem es unmöglich war, etwas falsch zu machen. Marie fehlten die Eckzähne, was in ihrem Alter normal war; man konnte aber einen der nachwachsenden Zähne bereits spüren. Sie war gut genährt und weder zu groß noch zu klein für ihr Alter. Dafür fielen Judith Krusten an ihrem Handgelenk und an der Stirn auf. Sie schaute sich die Stellen näher an, und das Mädchen fing an zu zappeln.
»Es juckt dort sehr, wie?«, fragte Judith behutsam. »Vor allem des Nachts?« Marie nickte.
»Alle Kinder kratzen sich hin und wieder«, sagte die Herzogin scharf. »Meine Töchter haben keine Läuse, wenn Ihr das unterstellen wollt.«
»Nein, aber Eure Tochter hat die Krätze«, gab Judith zurück. »Ich werde ihr ein Pflaster machen, doch Ihr müsst dafür sorgen, dass sie sich nicht mehr kratzt, sonst verbreiten sich diese Stellen nur noch mehr. Ich brauche Korn, Wein und Pulver aus Weihrauchharz. Nichts davon dürfte schwer zu bekommen sein. Außerdem muss sie vorher ein Vollbad nehmen, und nach vier Tagen noch einmal.«
Die Herzogin wirkte erleichtert. »Und es heilt schnell wieder ab?«
Judith zögerte. Oft schwand die Krätze nach zwei Wochen, wenn sie behandelt und die Patienten vom Kratzen abgehalten wurden, aber es wäre sehr leicht möglich, dafür zu sorgen, dass Marie noch mindestens die nächsten zwei Monate mit der Krätze zu tun hatte. Vielleicht würde es die Verhandlungen verzögern, bis Otto nicht mehr König werden konnte; dann wäre Hans von Brabant wohl nicht mehr daran interessiert, seine Tochter mit ihm zu vermählen. Oder sie konnte auf Ottos Eitelkeit setzen und hoffen, dass schon ein Gerücht von Krätze ihn dazu brachte, das kleine Mädchen und seine Schwestern zurückzuweisen.
Das Mädchen schaute Judith mit großen Augen an, und sie dachte daran, wie es Diepold von Schweinspeunt nur gekümmert hatte, dass Irene nicht starb, nicht, was mit ihr sonst geschah. Marie würde verlobt werden, selbst wenn sie am ganzen Körper mit Schürfwunden bedeckt war. Oder man würde einfach ihre Zwillingsschwester anbieten. Dachte sie ernsthaft daran, einer Patientin zu schaden, und sei es nur durch das Hinauszögern einer Hautentzündung, nach dem, was mit Richildis geschehen war?
»Wenn wir Glück haben, dann sollte nach zwei Wochen nichts mehr zu sehen sein«, sagte Judith. Mathilde trat einen Schritt zurück. Erst jetzt wurde Judith bewusst, dass die Herzogin ihre Tochter in der Zeit, wo sie beide sich im Raum befanden, noch nicht berührt hatte. Vielleicht war das bei adeligen Müttern nicht üblich.
»Ich will nicht hoffen, dass die Krätze auf die anderen Kinder überspringt, oder auf mich.«
»Diese Gefahr besteht«, sagte Judith. »Ihr solltet Eurer Tochter einen eigenen Raum geben und sie erst wieder bei den anderen Kindern unterbringen, wenn alle Bläschen und der Schorf verheilt sind. Warum lasst Ihr mich nicht noch ein paar Tage hier bleiben?«, schlug sie vor. »Dann kann ich Euren Mägden zeigen, wie man die Pflaster für Krätze bereitet, und sichergehen, dass nur das Fräulein Marie betroffen ist.«
»Erwartet Graf Otto nicht so schnell wie möglich Euren Bescheid?«, fragte die Herzogin misstrauisch.
»Die Gesundheit seiner zukünftigen Gemahlin ist ihm gewiss das Wichtigste«, gab Judith sanft zurück. Eigentlich gebot es die Vorsicht, sich so schnell wie möglich wieder aus dem Staub zu machen, denn zweifellos würde bald der Arzt, den Otto garantiert auch geschickt hatte, in Brüssel eintreffen. Die Möglichkeit, dass der Herzogin die Verlobung ihrer Tochter ausgeredet werden konnte, bestand gewiss nicht bei dem Hass, den Mathilde den Staufern wegen des Todes ihres Schwagers entgegenbrachte. Aber Judith wurde das Gefühl nicht los, dass es noch mehr geben musste, was sie hier tun konnte. Außerdem war die Krätze nicht harmlos; sie wollte sichergehen, dass die Mägde wussten, was für Marie zu tun war. Die meisten Patienten, die Judith in Salerno mit Krätze erlebt
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