Das Spiel der Nachtigall
hatte.
»Ich dachte, ich sei tot«, flüsterte Gilles in Judiths Haar. »Robert?«
»Er hat ein christliches Begräbnis erhalten«, sagte sie beruhigend und streichelte seinen Rücken. Als er zusammenzuckte, fügte sie mit belegter Stimme hinzu: »Gilles, du gehörst ins … du solltest …«
»Wir müssen von hier verschwinden«, ergänzte Walther scharf, »Judith, Ihr solltet die Pferde festhalten!« Sie sah ihn erschrocken an und wusste offensichtlich, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Glücklicherweise standen die Tiere immer noch dort, wo sie zurückgelassen worden waren. »Gilles, zieht schnell die frischen Sachen über, das wird helfen, aus der Stadt zu kommen. Wir müssen uns beeilen. Keine Macht auf der Welt schätzt es, wenn man ihnen Gefangene entführt, und ich glaube nicht, dass die Braunschweiger da Ausnahmen sind.«
Auch die Wachen am Stadttor ließen nicht erkennen, ob sie lesen konnten oder nicht, aber nach einer kurzen Diskussion – bei der Walther sein Talent dafür entdeckte, wütend die Stimme zu erheben, während er eigentlich das Gefühl hatte, die Luft anhalten zu müssen – hatten das gefälschte Siegel und das echte Pergament die richtige Wirkung. Die Wache, die zugab, nicht lesen zu können, das Siegel ihres Herrn auf teurem Pergament jedoch erkannte und Männer, die sich amtsgewaltig gaben, nicht durchließ, musste erst noch geboren werden.
Während Walther und die anderen langsam davonritten und den Moment herbeisehnten, wenn sie den Pferden die Sporen geben konnten, ohne verdächtig zu wirken, dachte er daran, dass er zufrieden sein konnte, die beiden Pergamente wieder sicher in seiner Tasche zu wissen. Bei der nächstbesten Gelegenheit würde er die beiden Blätter abschaben, dann waren sie wieder so gut wie neu. Manchmal, dachte Walther, war es eine gute Sache, die Vergangenheit loswerden und einen neuen Anfang machen zu können.
Ob die Braunschweiger sich überhaupt die Mühe machten, Gilles jemanden hinterherzuschicken, wusste keiner von ihnen. Sie hatten absichtlich das Westtor genommen und so getan, als ob sie in Richtung Rheinland wollten, und waren erst weit außerhalb der Sicht der Wachen nach Süden geschwenkt. Trotzdem erschien es angebracht, erst zwei Tagesritte von Braunschweig entfernt etwas länger zu verweilen. Gilles, das musste Walther zugeben, zeigte große Selbstbeherrschung und beschwerte sich nicht, obwohl er gewiss bei jedem Schritt des Pferdes litt. Auch sonst war er schweigsam, was kein Wunder war. Dass der sonst recht redselige Markwart ebenfalls ein Schweigegelübde abgelegt zu haben schien, kam überraschend. Als Walther ihn in der ersten Nacht zur Seite zog und fragte, ob etwas nicht stimmte, kratzte sich Markwart am Kopf und meinte, er wisse eben nicht, ob man Gilles trauen könne.
»Inwiefern trauen?«, fragte Walther verblüfft.
»Also, ich schlafe lieber mit meinem Hintern gegen eine Wand, wenn du verstehst, was ich meine«, entgegnete er bedeutungsvoll.
»Markwart, der Mann ist gerade dem Tod entronnen, man hat tagelang auf ihn wie auf einen Sack voll Korn eingeprügelt, und wenn ich es recht verstanden habe, dann hat er jemanden verloren, der … nun, der ihm etwas bedeutet hat. Unter solchen Umständen ist deine Tugend bestimmt nicht gefährdet.«
»Wenn jemand so abartig ist, hinter Männern statt Frauen her zu sein, dann weiß man nie«, verteidigte sich Markwart. »Außerdem ist dein Mädchen auch ganz und gar nicht so, wie ich sie mir vorgestellt habe. Sie … sie ist ja gelehrt wie eine Nonne!«
»Du wusstest doch, dass sie eine Heilerin ist.«
»Die alte Gundel bringt bei uns im Dorf alle Kinder zur Welt und braut auch Kräutertee für alle Kranken, aber ihren Namen schreiben kann sie trotzdem nicht. Weißt du, wie schwer die Bücher sind, die mein armer Gaul nun für sie zu schleppen hat? Außerdem verstehe ich nicht, warum sie so zärtlich mit dem Kerl tut, der sie betrogen und gegen Gott und die Welt gesündigt hat. Und sag nicht, dass dich das nicht auch stört! Ich kenne dich. Du schaust immer noch wie jemand, dessen Braten gerade von einem anderen gegessen wird.«
Mit dieser Beobachtung hatte er nicht ganz unrecht. Was Walther immer wieder einen Stich versetzte, war die Vertrautheit und Zuneigung zwischen Gilles und ihr, vor allem, wenn er bedachte, wie wenige Begegnungen zwischen Judith und ihm je ohne Streit geendet hatten. Gleichzeitig war er sich bewusst, wie dumm dieser Neid war, und versuchte, ihn zu unterdrücken,
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