Das Spiel der Nachtigall
so gut er konnte. Die Wirklichkeit war immer anders, als man sie sich erhoffte. Zumal es in seiner Vorstellung Judith, nicht Gilles gewesen war, die er vor einer drohenden Gefahr rettete, um dann mit einem Kuss sämtliche Missverständnisse zu klären.
Da er mit ihr sprechen wollte, auch wenn er nicht das sagen konnte, was er sich wünschte, fragte er Judith, was es nun mit ihrem Onkel, Otto und den Staufern auf sich hatte. Zuerst wich sie ihm aus, weshalb er sich zu einem eigenen Geständnis entschloss: »Er hat versucht, mich als Spitzel anzuwerben, Euer Onkel. Mit dem Auftrag, nach Euch zu suchen, weil er sich so große Sorgen um Euch macht.«
»Und das habt Ihr ihm geglaubt?«
»Nein«, gab Walther zu. »Das heißt, ich glaube wohl, dass er sich Sorgen macht, aber ob nun Sorgen um Euch oder Sorgen darum, dass Ihr ihn in den Augen des Erzbischofs und Ottos als unzuverlässig erscheinen lasst, das weiß ich nicht. Vor allem jedoch wollte er durch mich Verbindungen zu ganz bestimmten Edelleuten an Philipps Hof knüpfen, um so ein paar gut unterrichtete Spitzel zu gewinnen.«
Judith biss sich auf die Lippen. »Das sieht ihm ähnlich«, sagte sie enttäuscht.
»Es könnte sein, dass er recht hat«, sagte Walther.
»Womit?«
»Damit, wen er unterstützt. Ich habe das Angebot Eures Onkels nicht angenommen, weil der Papst sich für Otto entschieden hat, und derjenige, der mir in diesem ganzen Spiel am meisten zuwider ist, ist dieser Innozenz. Der will nur die Weltherrschaft der Staufer durch seine eigene ersetzen. Aber sonst … Judith, soweit es Philipp und Irene betraf, hättet Ihr in Braunschweig verrotten können. Wenn mir Lucia nicht erzählt hätte, wo Ihr seid, dann würde ich jetzt noch in Hagenau auf eine Auskunft warten, wo ich Euch finden kann.«
»Woher hätten der König und seine Gemahlin denn wissen sollen, dass ich Hilfe brauche?«, fragte Judith zurück. Sie klang so, als wollte sie sich selbst überzeugen. »Was in Braunschweig geschehen ist, hatte nichts mit Staufern oder Welfen zu tun.«
»Das mag alles so sein. Aber haltet Ihr Philipp wirklich für den besseren König? Bisher kann ich keinen Unterschied zwischen ihm und Otto erkennen, was die Art, Kriege zu führen betrifft oder den Umgang mit Untergebenen.«
»Ich schon. Philipp hat keine Freude daran, Menschen zu quälen«, sagte Judith bestimmt.
»Das war der Nonne, die von seinen Leuten geteert und gefedert wurde, gewiss ein Trost«, gab Walther zurück. »Natürlich glaube ich nicht, dass Philipp persönlich den Befehl dafür gegeben hat, aber …«
»Wenn Soldaten nicht glauben würden, dass sie für so etwas belohnt statt bestraft werden, dann täten sie es nicht«, fiel Gilles überraschend ein. Seine Stimme war noch immer rauh; er klammerte sich an den Sattelknauf seines Pferdes, als müsse er sich vor dem Stürzen bewahren, doch offenbar hörte er ihrem Gespräch sehr aufmerksam zu.
»Kümmert Euch wirklich die Nonne oder dass Philipp Euch nicht genügend ehrt und vertraut?«, fragte Judith mit erkennbar angespannter Stimme, und da wusste er, dass sie selbst auch ihre Zweifel haben musste. Was nichts daran änderte, dass sie mit ihrer Vermutung mehr als ein Körnchen Wahrheit aufgelesen hatte, wenn er in sich horchte.
»Mich kümmert … manches. Was kümmert Euch?«, fragte er herausfordernd. »Wofür habt Ihr in Braunschweig und Brabant Euer Leben aufs Spiel gesetzt? Für die Sache der Staufer, oder um Otto und Eurem Onkel eins auszuwischen?«
Sie erwiderte nichts. Walther verfluchte sich, weil es ihm vorkam, als folgten seine Begegnungen mit Judith den strengen Vorschriften eines Tageliedes, ohne Abweichung: Auf Harmonie folgte Streit, so sicher wie das Amen in der Kirche. Gleichzeitig wollte er auch nichts zurücknehmen. Es war eine ehrliche Frage gewesen, und wenn sie selbst unbequeme Wahrheiten aussprach, dann musste sie auch bereit sein, solche zu hören.
»Lasst uns beide darüber nachdenken«, sagte Judith.
Danach wurde lange Zeit nichts mehr gesprochen.
In einer Nacht, als sie in einem verlassenen Dorf Quartier in einer Ruine machten, die nicht so ausgebrannt war wie die meisten anderen, um Gilles etwas Zeit zur Erholung zu geben, sprach dieser ihn überraschend an.
»Mein Freund«, sagte er, »ich habe Euch noch nicht gedankt für Eure Hilfe.«
Walther machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Ich glaube, ich wäre sonst tot«, fügte Gilles sehr ernst hinzu. »Und manchmal wünschte ich mir das sogar, nachdem
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