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Das Spiel der Nachtigall

Das Spiel der Nachtigall

Titel: Das Spiel der Nachtigall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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wusste offenbar nicht, was von ihm erwartet wurde. »Nun macht die Order schon auf. Es ist ein Befehl für Euch, uns den gefangenen Aquitanier zu übergeben.«
    Sein Gegenüber blickte auf das Siegel, dann brach er es vorsichtig auf, um ja nichts zu beschädigen. Sein Blick in das Dokument verriet nicht, ob er es lesen konnte. Jedenfalls starrte er so lange auf die geschriebenen Wörter, als müsse er das ganze Nibelungenlied darin entziffern, so erschien es zumindest Walther. So konnte es nicht weitergehen.
    »Geht schon!«, herrschte er den Mann an. Als seine Worte immer noch keine Reaktion hervorriefen, packte er ihn bei den Schultern, drehte ihn einfach um und schob ihn in den Gang. Einmal in Bewegung geraten, lief er dann auch. Vor der nächsten Tür drehte er sich aber um, schaute zu ihnen beiden und fragte: »Und Ihr seid …«
    »Ein Dienstmann der Pfalzgräfin.«
    »Was will die denn mit einem überführten Liebhaber von Männern?« Misstrauen flackerte in seinem Blick auf.
    »Ganz unter uns? Aber es muss ein Geheimnis bleiben!« Der Wächter nickte. »Er ist ein sehr alter Freund ihrer Familie. Ihrer Schwäger, wenn Ihr versteht, was ich meine.« Walther räusperte sich. »Oder ist Euch etwa nicht aufgefallen, dass er aus Aquitanien stammt, wo der Pfalzgraf mit seinen Brüdern auch … nun, ihre Jugend verbracht haben?«
    »Ihr meint … bei allen Heiligen! Der Otto, gar unser Pfalzgraf?«
    »Die Pfalzgräfin«, bemerkte Walther gewichtig, »macht sich große Sorgen, dass der Mann vor seiner Bestrafung und aller Ohren Dinge sagt, die am Hofe Richards geschahen und … nun, jedenfalls wünscht sie, ihn zu sehen.«
    Der Wächter hatte die Augen aufgerissen. »So was aber auch!« Er rieb Walthers kostbares Pergament zwischen den Fingern und starrte wieder auf das Siegel. »Sagt der Pfalzgräfin, sie kann sich jederzeit auf mich verlassen. Kommt mit!«
    Ganz egal, ob der Mann lesen konnte oder nur das Siegel erkannte: Wie einfach war es doch, Menschen mit etwas beschriebenem Pergament zu beeindrucken, wenn ihr Wissen und ihre Phantasie nicht ausreichten, um Behauptungen zu hinterfragen. Walther ließ sich das Schriftstück wieder aushändigen; er hatte noch Verwendung für das Pergament. Danach folgten Walther und Markwart ihm durch die unteren Gänge des Rathauses zum Lochgefängnis. Der zweite Wachmann saß davor und schnarchte.
    »He, steh auf, wir müssen den Gefangenen übergeben.« Sein Kollege blickte nicht gescheiter daher, als er selbst es getan hatte, war aber offenbar gewohnt, zu gehorchen. Er stieß den Riegel zurück, der den runden Verschlag über dem Gefängnis zuhielt, und rief hinein: »Männerficker!«
    Schweigen. Es kam Walther in den Sinn, dass Gilles glauben konnte, sein Ende sei gekommen, daher fügte er hastig hinzu: »Die Pfalzgräfin will Euch sehen, und Eure Gemahlin, und Ihr sollt singen wie ein Minnesänger.«
    Seine Hoffnung ging auf: Gilles schien durch den Hinweis auf den Minnegesang seine Stimme erkannt zu haben. Es rührte sich etwas. Walther kniff die Augen zusammen und konnte einen verdreckten Mann ausmachen, der sich schwerfällig vom Boden erhob und in die Höhe reckte, um sich von den zwei Wächtern an seinen ausgestreckten Armen nach oben ziehen zu lassen. Als Gilles endlich seinem Loch entkommen war, musterte ihn Walther mit einiger Bestürzung. Der Mann war mit Hautrissen, dunklen Flecken und Beulen übersät und musste mehr als einmal zusammengeschlagen worden sein. Seiner Rolle getreu fuhr er ihn jedoch an, er solle sich nicht so anstellen und ihm folgen. Schweigend machten sie sich auf den Weg. Walther meinte die ganze Zeit, die Blicke der Wachleute im Rücken zu spüren. Gilles bewegte sich mit derart schweren, offenkundig schmerzerfüllten Bewegungen, dass er außerdem fürchtete, ihn nicht bis zu der wartenden Judith durchzubringen.
    Als sie endlich die Rathaustür hinter sich gelassen hatten, ohne einer weiteren Wache begegnet zu sein, raunte er ihm zu: »Lasst uns verschwinden. Judith wartet.« Markwart und er packten ihn wie einen betrunkenen Freund unter seinen Armen; so würden sie schneller vorankommen.
    Inzwischen war es tiefe Nacht, doch dank des Halbmonds konnten sie noch einigermaßen sehen. Walther entdeckte Judiths Gestalt, als sie ihnen über den Marktplatz entgegeneilte. Gilles machte sich los und umarmte sie trotz seiner Wunden mit einer Heftigkeit, die Walther an die Eifersucht erinnerte, die ihn in Köln beim ersten Anblick des Paares geplagt

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