Das Spiel der Nachtigall
dass meine Reisen nach Brüssel und Braunschweig nicht umsonst waren. Wenn das so ist, wenn wir diese Dinge für uns beanspruchen dürfen, müssen wir dann nicht auch dafür geradestehen, wenn jemand Macht erlangt, der keine haben sollte, und dem wir irgendwie geholfen haben?«
»Wenn du heute ein Kind von den Masern heilst und in zwanzig Jahren das Kind ein zweiter Botho wird, bist du dann dafür verantwortlich? Wenn du das wirklich glaubst, Judith, dann kannst du gleich aufhören, zu heilen, denn du kannst bei keinem deiner Patienten in die Zukunft blicken.«
Irgendetwas erschien ihr an dieser Argumentation nicht richtig, aber sie war zu erschöpft, um jetzt noch darüber nachzudenken. »Menschen, die Angst haben, bedrohen oft andere«, murmelte sie. »Er hat Angst davor, zu erblinden. Das hätte jeder. Vielleicht ist es nicht mehr als diese Unsicherheit.«
»Nun, ich würde mir bestimmt keine Nadel ins Auge stechen lassen. Das wäre einer meiner Alpträume.«
»Und wenn es dich davor bewahren würde, blind zu werden?«
Walther drehte sie zu sich herum, legte eine Hand auf ihre Wange und sagte sehr ernst: »Ich würde mir vor Angst in die Hose machen, aber ich würde es tun, wenn du mich darum bätest.«
Sie musste lachen; der Rest des üblen Geschmacks, den die Begegnung mit Botho in ihrem Mund hinterlassen hatte, zerrann. »Das ist eine der überzeugendsten Liebeserklärungen, die du mir je gemacht hast.«
»Und wie üblich bist du völlig herzlos, statt mir umgehend zu schwören, dass du dir gleich zwei Nadeln in die Augen stechen lassen würdest, wenn ich dich darum bäte.«
»Zwei Nadeln wären sinnlos für einen Starstich.«
»Ich glaube, ich werde ein neues Lied über die Herzlosigkeit mir bekannter Frauen verfassen. Mit einer nachträglichen Bitte um Vergebung an Reinmar, weil ich erst jetzt verstehe, wie geliebte Frauen einen Dichter allein durch schiere Vernunft schon leiden lassen können.«
Er küsste die Grübchen auf ihren Wangen. Bei sich dachte Judith, wenn es eine Möglichkeit gäbe, das Glücksgefühl in einen Trank zu bannen, das er in ihr erweckte, die Gewissheit, dass er sie lachen, zürnen, weinen und hoffen lassen konnte, und manchmal sogar absichtlich und in der richtigen Reihenfolge, dann könnte sie die ganze Welt damit heilen.
Es lag ihr auf der Zunge, ihn zu fragen, ob er wusste, worauf Botho mit seinem »das verdankt Ihr mir« angespielt hatte, aber dann entschied sie, dass sie heute nicht mehr von Botho und seinen Widerwärtigkeiten reden wollte. Genug war genug. Was konnte es auch bedeuten, außer einer weiteren Prahlerei? Mit Sicherheit lohnte es sich nicht, auch nur einen weiteren Gedanken darauf zu verschwenden.
»Das Gute daran, eine Ärztin zu lieben«, gab sie zurück und ließ ihre Fingerspitzen seinen Nacken hinuntergleiten, »ist, dass wir die Leiden, die wir verursachen, auch alle zu heilen verstehen.«
Er kam nicht umhin, das letzte Wort haben zu wollen, und fügte hinzu: »Meine Wunden schlägst du gewöhnlich mit deinem Mund; benutze ihn deshalb auch, um sie zu lindern. Du kennst da einige ganz köstliche, mich immer wieder überraschende Methoden!«
Kapitel 33
E s war Hugo, der Walther den Pelzmantel überreichte, den schönen, warmen Biberpelzmantel, der einem Prälaten wohl angestanden hätte und mehr als willkommen war. Walther nahm sich vor, ein besonders warmherziges Preislied auf Wolfger zu schreiben. Trotzdem, das Gefühl nagte an ihm, dass der Bischof mehr als nur ein Preislied erwartete, sonst hätte er sich nicht die Mühe gemacht, Walther über die Alpen mitzunehmen. Aber auch, als die Sprache um sie herum aufhörte, Deutsch zu sein, und zu der Volgare der italischen Landstriche wurde, plauderte Wolfger unverändert über alles Mögliche, nur nicht über seine Gründe. Als Walther Hugo auszuhorchen versuchte, sonst immer eine sichere Quelle, stieß er auf Granit. Anscheinend lernte selbst Hugo dazu. Dafür erwähnte er jedoch etwas anderes, und das war auch beunruhigend.
»Wolfgers Patriarchat ist noch nicht bestätigt«, erzählte Walther Judith. »Genauso wenig wie Konrads Bischofssitz in Würzburg es damals war, ehe er nach Rom zog, um sich dem Papst zu unterwerfen.«
»Ich dachte, christliche Bischöfe sind alle dem Papst unterworfen.«
»Das sollten sie wohl, und das hätte Innozenz auch gerne. Aber wenn sie es wären, dann hätte Philipp bei uns längst keine kirchlichen Fürsten mehr. Ich bin nicht sicher, wer von ihnen lieber Bischof,
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