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Das Spiel der Nachtigall

Das Spiel der Nachtigall

Titel: Das Spiel der Nachtigall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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ihn zur Seite zog und fragte, ob er willens sei, einen weiteren Teil des großen Liedes über die Nibelungen zu lesen.
    »Dann ist der Verfasser hier bei uns?«, fragte Walther, aufgeregt und etwas verärgert von der Vorstellung, in Wolfgers Gefolge könne sich just der Dichter verbergen, den er am meisten kennenlernen wollte, und dieser habe es bisher fertiggebracht, nicht das Wort an ihn zu richten, keinen Funken der Neugier für ihn zu zeigen. Am Ende hielt der Nibelungendichter Walthers Lieder für nicht bedeutend genug, um ihren Verfasser einer Unterhaltung würdig zu befinden? Das war eine bittere Aussicht, schlimmer als alles, was Walther in dieser Hinsicht empfunden hatte, seit er noch ein Junge und Reinmar für ihn der Quell aller poetischen Weisheit gewesen war.
    »Gewissermaßen. Aber wollt Ihr nun …«
    »Liebend gerne«, gab Walther zurück. Er mochte sich insgeheim Sorgen darum machen, nicht so gut zu sein, wie er glaubte, und das von einem berufenen Mund zu hören, aber im Gegensatz zu einem unfreiwilligen Aufenthalt in den päpstlichen Kerkern war das kein Schicksal, vor dem er weglaufen würde.
    Wolfger gab ihm einen engbeschriebenen Pergamentbogen. Im Gegensatz zu den sorgsamen Abschriften, die er Walther bisher überlassen hatte und die von seinen Kanzleischreibern gemacht worden sein mussten, war die Schrift diesmal hastig, voller ausgestrichener und überschriebener Worte. Walthers Herz setzte einen Schlag aus. Das musste ein erster Entwurf sein.
    Und das konnte nur bedeuten …
    »Bei allen Heiligen und der Jungfernhaut Marias«, sagte er und starrte Wolfger an. »Ihr seid es!«
    »Diesen blasphemischen Fluch will ich nicht gehört haben, Herr Walther, und ich bin was?«
    »Ihr seid der Dichter. Das ist Euer Werk!«
    Wolfger schaute erstmals, seit er ihn kannte, verlegen drein, räusperte sich und verschränkte seine Finger ineinander. »Wie kommt Ihr darauf?«
    »Weil sich der Verfasser leisten kann, einen Entwurf auf Pergament zu schreiben statt auf Wachs. Kein fahrender Sänger, auch nicht einer mit einem festen Platz bei Hofe, würde das tun, weil ihm das Pergament zu kostbar wäre.« Er fuhr mit den Fingern über den Bogen voller krakeliger Schriftzüge. »Das erklärt auch, warum sich alle Sänger darüber streiten, wer denn nun dieses neue Epos verfasst, jeder andere Namen nennt und sich alle nur einig sind, dass es jemand aus Eurem Haushalt sein muss. Nur dass ich ihn dort in all den Jahren, die ich zu Euch komme, nie kennengelernt habe.«
    »Was würde mich daran hindern, mich als Dichter zu offenbaren?«, fragte Wolfger prüfend. »Es ist nichts Ehrenrühriges dabei, Lieder zu verfassen. Der verstorbene Kaiser Heinrich, Gott sei seiner Seele gnädig, denn sonst wird es keiner je sein, hat es getan. Gar mancher Mönch tut es.«
    »Ihr könntet nicht frei von der Leber weg schreiben, wenn sich jeder geistliche und weltliche Fürst, mit dem Ihr verhandelt, fragen muss, ob er nicht auftaucht in diesem Lied«, gab Walther zurück und wunderte sich, dass er nicht früher darauf gekommen war. Die Könige, die das Nibelungenlied beschrieb, waren wirklich alles andere als edel: Gunther griff zu Lug und Trug; Hagen war ein Mörder; Siegfried ließ sich von der Aussicht auf eine neue Frau bestechen, eine andere zu betrügen; Brünhild und Kriemhild brachten mit ihrer Rachsucht Verderben über so viele.
    »Wenn Ihr recht hättet«, sagte Wolfger ausdrucklos, »könnte ich das unmöglich bestätigen. Aber ich würde trotzdem gerne wissen, was Ihr von dem neuesten Teil des Liedes haltet, zumal Eure Bemerkungen über das Manuskript schon immer sehr hilfreich für den Dichter waren. Als ein Sänger, der einen anderen beurteilt, nicht mehr, aber auch nicht weniger.«
    »Habe ich jemals etwas anderes getan?«
    »Nicht, solange Ihr noch dachtet, dass der Verfasser dieses Liedes ein Mann wie Ihr selbst wäre«, sagte Wolfger. »Es sei mir fern, Euch etwas zu unterstellen, Herr Walther, doch derzeit bezahle ich Euer täglich Brot. Da wäre es nur natürlich, wenn Ihr nun die schärferen Worte zurückhieltet.«
    Das Gefühl einer neu entdeckten Verwandtschaft war unerwartet – und unerwartet heftig. Walther wusste nur zu gut, wie sehr man sich nach jemanden sehnen konnte, der wirklich in der Lage war, das, was man schrieb, zu beurteilen. Deswegen hatte es ihm so viel bedeutet, Reinmar zu beeindrucken, selbst als sie den österreichischen Hof durch ihre wechselseitigen Sticheleien und ihre Fehde mehr

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