Das Spiel der Nachtigall
Helenas Mägden kehrte zurück, nicht aus der Schlossküche, sondern aus dem Zimmer des Herzogs, und sie kam nicht allein. Bei ihr war ein junger Mann, den Judith auf den ersten Blick nicht einschätzen konnte.
»Lasst hören, Herr Walther, was gibt es zu berichten?«
Wie die meisten Männer, die sie bisher in der Residenz gesehen hatte, trug er keinen bis über die Knie reichenden Kittel wie die Leute zu Hause, sondern einen nur bis zum Knie gehenden Rock, der am Saum geschlitzt war. Stickereien wie bei Otto fehlten, und der rote Stoff war sogar abgewetzter als der des Haushofmeisters, genau wie die Wolle seiner Beinlinge, doch wie ein Diener benahm er sich auch nicht. Seine Verbeugung vor der Herzogin war zwar höflich, doch nicht tiefer, als die Ottos es gewesen war. Er hielt auch nicht die Augen gesenkt. Judith sah, dass sie nicht nur grün waren, sondern auch bemerkenswert schön – ein Gedanke, den sie sofort energisch zur Seite schob –, und so unbekümmert blickten, als begegne er seinesgleichen. Er hatte braune, schulterlange Haare, und sein Kinn war glatt rasiert, was sie zunächst verwunderte, bis sie sich wieder besann, dass bei den Christen nicht jeder erwachsene Mann einen Bart trug. Ein Knabe war er jedenfalls schon lange nicht mehr; die Stimme, mit der er sprach, füllte den Raum und fuhr ihr durch die Glieder. Was er mit dieser Stimme sagte – und wie unverhohlen er schmeichelte –, brachte Judith aber gleich dazu, ihn abzulehnen.
»Ich habe heute Morgen im Garten Zweige gesehen, auf denen der Tau gefroren war, so dass Eiskristalle eine Zauberwelt erkennen ließen. In ihnen war Euer Gesicht geformt, aber es war nicht schöner als das Original.« »Wie geht es meinem lieben Herrn?«, fragte die Herzogin. »Keine Ausflüchte und Schönfärbereien; ich will die Wahrheit wissen.«
Er wirkte enttäuscht, als die Herzogin mit keiner Miene auf seine Worte einging, stellte sein Verhalten aber sofort um. »Nicht gut, Euer Gnaden, und jetzt, wo ein weiterer Medicus an ihm herumstümpert, gewiss noch viel schlechter«, gab der aufgeblasene langnasige Kerl zurück. »Sie meinen es gewiss gut, doch nach dem, was ich in den letzten Tagen beobachtet habe, könnte man mit dem gleichen Erfolg einen Haufen blinder Küchenjungen einen Braten schneiden lassen. Manchmal denke ich, dass Ärzte eine weitere der zehn Plagen sind, mit der Gott die Menschheit straft.«
Wenn Judith dergleichen in Köln gehört hätte, eingehüllt in die ruhige Gewissheit, dass ihr Vater genügend Patienten hatte, um eine derartige Bemerkung im Nichts verhallen zu lassen, hätte sie den Sprecher nur ausgelacht. Hier und jetzt, wo die Herzogin jederzeit entscheiden konnte, dass gehängt zu werden noch zu gut für Josef ben Zayn war, zögerte Judith nicht einen Moment. Obwohl sie genau wusste, dass es sich nicht ziemte, in Gegenwart einer adligen Dame als Erste das Wort zu ergreifen, sagte sie verächtlich: »Die elfte Strafe Gottes sind dumm schwätzende Nichtstuer wie Ihr. Es mag Ärzte geben, die weniger begabt sind als andere, aber jeder, der die Heilkunst studiert hat, wünscht sich nichts mehr im Leben, als anderen Menschen zu helfen. Er arbeitet Tag und Nacht dafür und –«
Der Mann, der eine Laute in der Hand hielt, fuhr ihr ins Wort und sagte, zur Herzogin gewandt: »Ärzte sind und bleiben Menschen, deren Irrtümer die Erde zudeckt, eine Gnade, die kaum ein anderer für seine Fehler erhält.«
Ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen, sprach Judith weiter: »Selbst wenn Ihr uns nur die niedrigsten Beweggründe unterstellt, müsst Ihr zugeben, dass tote Patienten weder dankbar und freigiebig sein können noch ihre Familie dem gleichen Arzt anvertrauen. Also weiß jeder gebildete Mensch, dass ein Arzt sein ganzes Geschick aufwendet, um den Patienten zu helfen. Jeder, außer einem Narr, der mit dem Verstand eines Huhns gackert, weil er offenbar nicht in der Lage ist, ein einziges vernünftiges Wort zu sprechen!«
Erst als ihr Ausbruch in Stille verklang, wurde sich Judith bewusst, dass die Herzogin sie beide nicht unterbrochen oder ihnen zu schweigen befohlen hatte. Sie schaute zu Helena und stellte fest, dass die Herrin von Österreich sich wieder gesetzt hatte und sich mit einem mokanten Lächeln in ihren Stuhl zurücklehnte. Die Magd, deren Aufgabe es eigentlich gewesen wäre, Bericht vom Krankenbett des Herzogs zu erstatten, hatte die Hände vor den Mund geschlagen.
»Herr Walther«, sagte die Herzogin trocken,
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