Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Spiel der Nachtigall

Das Spiel der Nachtigall

Titel: Das Spiel der Nachtigall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
Vom Netzwerk:
der Abtei herumtrieb und seit Tagen jedermann mit seinem Geheul den letzten Nerv raubte. Einer der Knechte sollte ihm wirklich das Genick brechen.
    »Ich brauche Eure kundige Hilfe beim Entziffern einer Beschreibung«, sagte die Magistra und setzte den leise wimmernden Hund, den sie bisher auf ihrem Schoß gestreichelt hatte, auf den Boden neben eine Holzschale, aus der er sofort trank. Die Wachstafel, die sie Odokar entgegenstreckte, trugen Zeilen in Latein, wie er durch einen flüchtigen Blick darauf feststellte.
    »Ihr wollt Ärztin sein und könnt noch nicht einmal Latein lesen?«, fragte er und konnte seinen Hohn kaum unterdrücken.
    »Ich spreche es besser, als ich es lese. Wenn Ihr so gut sein wollt.«
    »Digitalis Purpurea«, las Odokar vor. »Roter Fingerhut, auch Fuchskraut und Waldschelle genannt. In geringer Dosis anzuwenden bei Herzschwäche, doch bereits der Verzehr von zwei Blättern kann tödlich sein.« Er schaute von der Wachstafel auf, doch die Magistra erwiderte seinen Blick nicht. Stattdessen sah sie zu dem Hund, und erst jetzt bemerkte Odokar, dass das stete Wimmern aufgehört hatte. Stattdessen lag er reglos neben der Holzschale. »Ich … ich verstehe nicht.«
    »Als Ärztin missbillige ich Folter«, sagte die Magistra. »Wenn der Bischof befohlen hätte, dass man Euch verhört, hättet Ihr sicher ein paar Tage geleugnet, bis er befohlen hätte, Gewalt anzuwenden, und wer weiß, was inzwischen mit Walther noch geschehen könnte. Sagt mir, wo er ist. Verschwendet bitte keine Zeit mit irgendwelchen Protesten; es ist Eure Zeit, nicht meine. Digitalis wirkt bei Menschen langsamer als bei Tieren, doch wie Ihr gerade beobachten konntet, geht es wirklich sehr schnell, wenn kein Gegenmittel gegeben wird.«
    Odokar wurde schwindelig. »Ihr … ich habe nicht …«
    »Im Skriptorium hat Euch ein Mitbruder den Wein des Bischofs gebracht, nicht wahr?«
    »Woher wisst Ihr …«
    »Ich hoffe, er hat auf dem Weg zu Euch nicht selbst gekostet, aber für ihn hätte ich noch ein Gegenmittel.«
    Er meinte, die Luft vor den Augen flimmern zu sehen.
    Die vermaledeite Magistra betrachtete ihn mit einem kühlen, sehr sachlichen Gesichtsausdruck. »Versucht erst gar nicht, zur Tür zu gehen«, sagte sie. »Ihr werdet sie verschlossen finden. Herr Hugo war so gut, mir in diesem Punkt behilflich zu sein.«
    »Ihr werdet als Mörderin brennen!«, stieß er hervor.
    »Dafür, dass Ihr den Wein des Bischofs getrunken habt? Das glaubt Ihr wohl selbst nicht. Das Mittel ist auch nicht nachzuweisen. Und nun sagt mir: Wo befindet sich Walther?«
    Der auf einmal auftauchende merkwürdige Geschmack auf seiner Zunge trieb Odokar vollends zur Verzweiflung. Er spürte, wie warmer Urin seine Oberschenkel hinunterlief.
    »Ich habe ihn gerettet!«, stieß er hervor. »Herr Botho wollte ihm die Kehle durchschneiden, aber dann akzeptierte er, dass lebenslanges Arbeitshaus schlimmer ist als der Tod. Und ich …«
    »Wo?«
    »Im Spinnhaus nahe San Clemente!«, platzte Odokar heraus und wusste sich nicht anders zu helfen, als sich ihr zu Füßen zu werfen. »Und nun rettet mich! Wo habt Ihr das Gegenmittel?«
    Sie betrachtete ihn noch ein paar Momente prüfend, dann nahm sie die Leiche des Hundes vom Boden auf. »Euch geht es wunderbar«, sagte sie. »Das arme Tier hat nun seinen Frieden. Ich werde es im Klostergarten beerdigen lassen.«
    Damit öffnete sie die unverschlossene Tür und verschwand.

Kapitel 35
    A ls sie ins Spinnhaus kam, hatte man Emilia gesagt, dass es Gynaeceum genannt wurde, aber das Wort besaß keine Bedeutung für sie; dass die Stadt jeden Tag eine bestimmte Menge Gesponnenes und Gewebtes von den Insassen erwartete, das war ihr dagegen klar. Daran änderten auch das miserable Licht, die stickige Luft und die Übermüdung nichts. Der Frauenwirt, der dem Spinnhaus vorstand, ließ außerdem durchblicken, dass er von den besser aussehenden Frauen noch ganz andere Fingerfertigkeiten erwartete als nur die, gut spinnen zu können, und auch von ein paar der jüngeren Männer. Da sich die Gefangenen davon bessere Behandlung versprachen, waren die meisten von ihnen auch bereit für solche Dienste. Emilia wäre einverstanden gewesen, aber sie erwartete ein Kind und kam schon deswegen für den Frauenwirt nicht in Frage. Die Schwangerschaft hatte ihr auch das Leben gerettet; eine schwangere Frau durfte nicht hingerichtet werden, auch nicht, wenn sie ihrem Gemahl die Kehle durchgeschnitten hatte. Aber man durfte sie spinnen und

Weitere Kostenlose Bücher