Das Spiel der Nachtigall
weben lassen, bis sie vor Erschöpfung zusammenbrach.
Nur einer ihrer Mitgefangenen hatte ihr von seinem Wasser abgegeben, ein deutscher Hagestolz, der am Anfang noch voller Empörung über alles gewesen war, auf seiner Unschuld bestand und ständig eine freche Bemerkung parat hatte. Erst, als man ihn wieder und wieder verprügelte und er zwei seiner Zähne ausspeien musste, wurde er allmählich klüger. Dann versuchte er, seine Ketten aufzusprengen, und wollte Emilia und zwei der anderen Schuldknechte, die wie er zum Weben verurteilt waren, anstiften, dazu eine Eisenstange als Hebel aus dem Webstuhl zu brechen. Er hatte nicht verstanden, warum Emilia ihn an den Frauenwirt verraten hatte. Das zeigte, wie töricht er war: Mittlerweile war sie im siebten Monat. Da draußen gab es nichts für sie. Die Familie ihres Gatten hätte sie gewiss nicht aufgenommen; die bestanden ja sogar darauf, dass Emilias Kind ein Bankert sei. Dabei hatte sie ihren Gemahl nicht um eines Liebhabers willen umgebracht, sondern um selbst zu überleben. Ihr erstes Kind hatte sie verloren, weil er sie betrunken in den Bauch getreten hatte, und als er wieder Tag für Tag Hand an sie legte, wusste sie, dass es diesmal auch sie das Leben kosten würde. Er oder ich, hatte Emilia gedacht, und sich selbst gewählt.
Das tat sie auch jetzt. Im Spinnhaus war das Leben hart, aber sie verhungerte nicht, obwohl sie für zwei aß. Und weil sie willig und gehorsam war, prügelte sie niemand. Wenn sie ihren Mitgefangenen nicht verriet, dann würde es keine Gnade mehr geben, und selbst, wenn man sie bis zur Geburt des Kleinen am Leben ließ, würde man sie danach töten. Also rief sie nach dem Frauenwirt. Seither war Walther an eine noch dickere Kette gelegt, und wenn er ungefragt den Mund aufmachte, wurde er geknebelt, damit er lernte, stumm zu weben.
Emilia glaubte nicht, dass er die drei, vier Jahre überleben würde, die Schuldknechte gewöhnlich im Spinnhaus verbrachten, bis man ihre Leichen heraustrug, nicht so, wie er wieder und wieder versuchte, seine Mitgefangenen dazu zu bringen, sich gegen den Frauenwirt zu erheben, auch wenn er nur nachts reden durfte. Es tat ihr leid; er hatte ihr schließlich einmal geholfen. Aber es war nicht ihr Fehler. Manche Menschen waren eben zu dumm, um auf ihr eigenes Wohl zu achten.
* * *
»Mir war klar, dass ich schneller Auskunft von ihm erhalten würde als Ihr«, sagte Judith zu Hugo, während sie beide zum Stall eilten.
»Ihr – Ihr habt doch nicht wirklich Gift in den Becher …«
»Ich bin eine Ärztin, Herr Hugo, ich vergifte keine Menschen, und schon gar nicht blindlings. Der Bote hätte auch trinken können. Aber man kann fast jedem Menschen alles einreden, wenn man glaubwürdig ist und sie nur genügend in Angst versetzt. Seine Tat, mein schlechter Ruf, den Hund tot zu sehen, hat Odokar überzeugt, das gleiche Mittel wie der Hund bekommen zu haben. Ich muss aber feststellen, für den Schreiber eines Patriarchen ist er nicht gelehrt genug, sonst wüsste er, dass es kein Gegenmittel für eine Vergiftung mit Digitalis gibt.«
Es war Wolfger gewesen, der vorgeschlagen hatte, die Zellen aller Mitreisenden zu durchsuchen, um festzustellen, ob man irgendetwas aus Walthers Besitz dort finden konnte. Er hatte dafür alle seine Leute mit Aufträgen betraut, die sie außerhalb ihrer Unterkünfte beschäftigte. In Odokars Zelle waren sie dann fündig geworden und auf Wolfgers Pergament gestoßen. Danach galt es, keine Zeit mehr zu verlieren. Zwar versuchte Judith immer noch, nichts an sich heranzulassen, Stein zu bleiben, aber es war schwer, wenn man gerade die Bestätigung gehört hatte, dass der geliebte Mann zwar noch lebte, aber in einer Hölle auf Erden.
Etwas verspätet fiel Hugo ein, was in einem Spinnhaus üblich war und dass es dort Dinge gab, die ihre Augen nicht sehen sollten. Er murmelte etwas über weibliches Zartgefühl, doch der Hinweis darauf, dass es um Walther ging, beendete schnell jegliche Anwandlung verfehlter Ritterlichkeit, die ihn aber zum Glück von der Frage ablenkte, warum Judith das Mittel, mit dem sie den Hund von seinen Leiden erlöst hatte, überhaupt in ihrer Arzneitasche bei sich trug.
»Ja, wir haben einen deutschen Schuldknecht hier«, sagte der Frauenwirt, der dem römischen Gynaeceum vorstand. »Der hat dem Bischof von Passau die Almosen für die Armen geraubt und ist daher zu lebenslangem Dienst verurteilt worden. Weil er gewalttätig ist, kam er schon in Fußschellen, und wir
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