Das Spiel der Nachtigall
Magistra«, sagte Beatrix mit erstickter Stimme. »Und dann habe ich geblutet. Er hat gesagt, das wäre immer so, aber es hat nicht mehr aufgehört, und der Feldscher hat gemeint, die Weiber von Salerno wüssten nichts, als ich ihm verboten habe, mich zur Ader zu lassen.«
Judith musste die Decke nicht zurückschlagen, um den Rest zu sehen: schwärende Wunden, Dammbruch, Blutvergiftung.
»Er wird dich nie wieder anfassen«, sagte sie. Beatrix hielt ihre Hand mit der Stärke, zu der sie noch imstand war.
»Doch, das wird er«, gab sie zurück, und sie wussten beide, dass Beatrix nicht von dem Feldscher sprach. »Wieder und wieder und wieder.«
Als ein Schatten über sie fiel, nahm Judith an, dass es sich um den Feldscher handelte, drehte sich nicht um und sagte: »Bei dem Fleischerhaken bleibt es nicht. Ich werde auch dafür sorgen, dass sie Euch die Eingeweide bei lebendigem Leib herausreißen.«
Der Schatten blieb und rührte sich nicht. Judith wandte den Kopf und sah, dass es Otto war. Auch auf seinem Gesicht waren die Anzeichen unverkennbar. Zum ersten Mal, seit sie ihm in einem anderen Leben am österreichischen Hof begegnet war, stand dort reine Angst geschrieben. »Ihr könnt sie heilen, nicht wahr?«
Die Hand des Mädchens in der ihren zuckte zusammen. »Macht, dass er weggeht«, sagte Beatrix und wirkte von Wort zu Wort jünger. »Bitte macht, dass er weggeht.«
»Himmelherrgott noch mal, niemand stirbt an so etwas«, stieß Otto hervor.
Wie aus weiter Ferne hörte sich Judith sagen: »Verschwindet.«
»Niemand stirbt daran«, wiederholte er. »Hört, ich werde wirklich gut bezahlen, wenn sie am Leben bleibt. Verdammt, ich werde mich sogar entschuldigen. Bei ihr. Bei – sogar bei Euch, wenn es sein muss. Aber bringt mir das Mädchen wieder auf die Beine! Ich brauche sie.«
Natürlich tat er das. Schließlich war sie das Unterpfand seines Anspruchs auf Sizilien und auf die Treue der alten Stauferanhänger. Gott bewahre, dass ein so kostbares Staatssiegel Schaden nahm, nur weil Otto ein wenig grob damit umgegangen war. Mehr war sie für ihn nicht.
»Es ist so dunkel«, murmelte Beatrix, obwohl es helllichter Tag war und das Zimmer, in dem man sie untergebracht hatte, ein Fenster besaß. Dann krampfte sich ihre Hand in der von Judith zusammen – und erschlaffte.
Judith legte ihren Kopf auf die Brust des Mädchens und weinte. Otto schrie und brüllte irgendetwas, Drohungen oder Versprechungen, sie wusste es nicht; längst schon hörte sie ihn nicht mehr.
Kapitel 46
D er Brennerpass kam für die kleine Gruppe aus Sizilianern und Deutschen, die einen König einschloss, nicht in Frage, weil er von den Andechs-Meraniern kontrolliert wurde. »Die würden alles tun, um nicht wieder einen Staufer auf dem Thron zu sehen«, bemerkte Anselm von Justingen. »Das schlechte Gewissen, Ihr versteht.«
Das hieß, dass die Reise erst nach Westen über das Engadin gehen musste, und auch dies war nicht ungefährlich, denn dabei mussten sie mailändisches Herrschaftsgebiet durchqueren. Die Mailänder hatten Friedrichs Großvater Barbarossa nie die Verwüstung ihrer Stadt verziehen. Sie waren die Ersten gewesen, die sich im Süden auf Ottos Seite geschlagen hatten, und blieben ihm auch jetzt treu. Es kam, wie es kommen musste: Bevor die kleine Gruppe den Fluss Lambro überquerte, um das staufisch gesinnte Cremona zu erreichen, legte sie eine Rast ein. Doch kaum waren die Pferde abgesattelt, tauchten Mailänder Truppen auf. »Mein König«, sagte Justingen bleich, »ich glaube nicht, dass wir sie besiegen können.«
»Ich glaube nicht, dass wir es versuchen sollten«, fiel Walther ein.
»Das hätte ich mir ja denken können, dass Ihr Euern Mantel schon wieder nach dem Wind hängt!«, gab Justingen giftig zurück. »Habe ich Euch etwa nicht genug bezahlt, Herr Wetterhahn?«
Friedrich, der Walther nicht aus den Augen ließ, hob die Hand. »Was mich betrifft, ich war immer der Ansicht, dass man von Vögeln nur lernen kann. Lasst Herrn Walther reden.«
»Euer Gnaden, es mag nicht sehr ehrenhaft sein, aber wenn man sich einer Übermacht gegenübersieht, dann flieht man eben. Die Mailänder werden erwarten, dass Ihr Euch zum Kampf stellt, weil Könige das zu tun pflegen und weil Ihr die Ehre Eures Großvaters zu verteidigen habt. Doch der Thron Eures Großvaters ist wichtiger. Lasst die Mailänder einfach Mailänder sein und uns, ohne einen Moment zu verlieren, den Fluss durchqueren, auch wenn die Pferde dabei schwimmen
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