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Das Spiel der Nachtigall

Das Spiel der Nachtigall

Titel: Das Spiel der Nachtigall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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Schließlich hat er ja selbst einen Kreuzzug gelobt bei seiner Krönung.«
    »Vielleicht führt er ihn ja durch, um den Papst zurückzugewinnen«, gab Judith zurück, obwohl sie das nicht glaubte.
    »Ganz gewiss nicht. Habt Ihr denn nicht davon gehört? Er ist wieder im Lande! Hat die Kaiserin zu sich gerufen nach Nordhausen, um nochmals mit ihr Hochzeit zu feiern, diesmal richtig, wenn Ihr versteht, was ich meine«, gab der Pilger zurück, dem sie den Knöchel verband, und zwinkerte ihr zu. Sie brauchte alle Selbstbeherrschung, derer sie fähig war, um mit dem Verbinden fortzufahren.
    »Nach Nordhausen, wirklich? Was tut er dort?«
    »Krieg gegen den Landgrafen von Thüringen führen, den Verräter.«
    Ihr Erspartes genügte, um sich ein Pferd zu sichern, aber nicht für einen Leibwächter. Sie versuchte, ein weiteres ihrer Bücher zu verkaufen, ihren kostbaren Galen, aber die Medici in Köln, die in Frage kamen, besaßen alle schon ihre eigenen Abschriften oder konnten sich ihren Preis nicht leisten. Also schluckte sie ihren Stolz hinunter und ging zu ihrem Onkel.
    »Das kann nicht dein Ernst sein«, sagte Paul. »Für wie dumm hältst du uns?«
    All ihre klugen Lügen, ihre guten Argumente ließen Judith im Stich, jetzt, wo sie diese am dringendsten benötigte. »Ich kann sie nicht im Stich lassen«, flüsterte sie. Ihre Stimme war heiser, als hätte sie sich die Kehle wund geschrien. »Sie ist meine Tochter.«
    »Was redest du für einen Unsinn, Base, du hast kein Kind!«
    »Paul«, sagte ihr Onkel, der sie nicht aus den Augen gelassen hatte, »begleite Judith nach Nordhausen.«
    »Aber …«
    »Tu, was ich sage. Es ist richtig so.«

    Wetter, Wind und Straßen waren zur Abwechslung ganz auf Judiths Seite, und es gelang ihr in fünf Tagen, das kaiserliche Lager bei Nordhausen zu erreichen. Diesmal machte sie sich nicht die Mühe, zu baden oder aus ihren verdreckten Kleidern zu schlüpfen, ehe sie nach der Kaiserin fragte. Sie hatte damit gerechnet, Paul als Bürgen zu benötigen, doch als die Nennung ihres Namens und Titels genügte, damit man sie sofort durchließ, beschlich sie ein sehr eigenartiges Gefühl.
    »Der Kaiser hat befohlen, dass alle Ärzte sofort zur Kaiserin gebracht werden«, sagte der Wächter, mit dem sie zu tun hatte. »Er hat reiche Belohnung dem versprochen, der sie heilen kann.«
    »Die Kaiserin ist krank?«, fragte Paul, da Judith stumm blieb. Der Mann nickte. »Und seit wann?«
    »Genau weiß ich das auch nicht, aber gesehen hat sie keiner mehr außerhalb ihrer Kemenate seit der … äh … seit der Hochzeitsnacht vor zwanzig Tagen.«
    Die Nacht in Würzburg, das Sterben von Richildis, der Anblick von Gilles und das Bewusstsein ihrer eigenen Verantwortung dabei, der Tod von Irene: Das alles war im unterschiedlichen Grad schrecklich für sie gewesen. Aber der Anblick von Beatrix auf ihrem Lager, der Geruch von altem und neuem Blut, weil sie von Ottos Feldarzt zur Ader gelassen wurde, den vielen Schnitten an ihrem Arm und den Fußknöcheln nach nicht zum ersten Mal, ihr eingefallenes, graues Gesicht und die unverwechselbaren Zeichen, die Judith darin las: Das war das Schlimmste.
    »Hört sofort auf!«, fuhr sie den Feldscher an.
    »Aber ihre Säfte müssen doch …«
    »Denus septenus vix phlebotonum petit annus!« Judith musste sich zurückhalten, um ihn nicht zu erwürgen. »Vor dem Erreichen des achtzehnten Geburtstags darf man niemanden zur Ader lassen. Und selbst dann nicht bei vorherigem Blutverlust! Sie ist vierzehn! «
    »Aber …«
    »Wenn Ihr nicht sofort diesen Raum verlasst«, schrie sie, »dann werde ich dafür sorgen, dass man Euch wie ein Stück Vieh an einem Fleischhaken aufhängt.«
    Etwas an ihr, ganz gleich, wie verstaubt und abgehetzt sie aussehen mochte, flößte ihm offenkundig Furcht ein, denn er floh. Judith stürzte neben dem Lager auf die Knie.
    »Magistra«, flüsterte Beatrix, »Magistra, seid Ihr das?«
    Ihre Augen waren offen, aber sie huschten umher, als sei sie nicht mehr in der Lage, fest in eine Richtung zu schauen. Gelblicher getrockneter Speichel klebte an ihren Mundrändern.
    »Ich bin es, mein Liebstes«, sagte Judith, mit der zärtlichen Stimme, die sie nie einem Kind geschenkt hatte, ohne sich weiter von irgendetwas zurückhalten zu lassen.
    »Es tut mir leid, dass ich Euch weggeschickt habe. Ihr … ich wusste es nicht. Ihr hattet recht.« Ihre Finger, kalt und klamm nach den zahlreichen Aderlässen, tasteten nach Judiths. »Es hat so weh getan,

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