Das Spiel des Alchimisten: Historischer Roman (German Edition)
über seine vier Wände, das Dach und die Tür verfügte und sich auf einer engen Fläche erhob, die nachlässig gerodet worden war. Das freie Stück war voller stiller Schatten, die darauf warteten, durch die offen stehende Tür der Gruft eintreten zu dürfen, eine schweigend organisierte Bewegung in die Tiefe der Erde hinein, die Seelen der Verstorbenen, die in ihre Gräber zurückströmten, statt sie auf der Suche nach dem Leben zu verlassen. Ich war im Zentrum des Gräberfeldes angekommen, doch die Gestalten um mich herum hatten ein Herz, das unter ihrer Kutte pochte wie meines. Sie waren nicht die Geister von Toten, sondern lebende Menschen, und wenn die Sonne aufgegangen war, würden sie vollkommen unauffällig ihren Geschäften drüben in der Stadt oder vor den Mauern nachgehen, Fischer, Handwerker, Kaufleute und Patrizier. Ich erblickte, was der schmächtige Alchimist mir hatte zeigen wollen.
Hilarius Wilhelm hatte die Grubenleute gefunden.
Am Ende einer Treppe lag eine weitere Tür, doch dahinter war keine Grabkammer voll stiller Sarkophage. Ein Gang war in die Tiefe der Erde gegraben worden, gestützt von backsteinernen Wänden, der Boden roher Lehm, in dem das Wasser knöcheltief stand. Dicht hinter der Tür befand sich eine Kammer, in der ein Vermummter den Ankommenden in Abständen unangezündete Fackeln in die Hand drückte. Eine brennende Fackel hing dort an der Wand, wo die Kammer sich zu dem Gang verengte, in dem ein sehr breitschultriger Mann oder jemandmit einem Harnisch sicherlich stecken geblieben wäre. Meine stummen Begleiter betraten den Gang, einer nach dem anderen, ohne sichtbare Ungeduld. Wer eine Fackel erhalten hatte, entzündete sie an der Flamme und hielt sie am ausgestreckten Arm vor sich, während er dem Gang folgte. Ich verschmähte die Fackel, die sich mir entgegenstreckte, und schaffte es, mich hinter einem Maskierten einzureihen, der eine erhalten hatte. Im tanzenden Schein der Flamme sah ich das Wasser in Fäden aus den Backsteinwänden dringen, schwarz im Fackellicht. Die Luft war kühl und feucht und schlechter als im tiefsten Verlies der Hölle. Das Wasser auf dem Boden gurgelte um unsere Füße und schmatzte, und der Lehmboden hielt die Sohlen der Stiefel fest. Der Gang wurde so niedrig, dass ich mich bücken musste, führte um eine Ecke und erweiterte sich plötzlich zu einer Kammer ähnlich der beim Eingang, nur größer und mit einer höheren Decke. Meine Begleiter schritten weiter, ohne ihr die geringste Aufmerksamkeit zu zollen. Mit einem schnellen Blick sah ich mich um: Ziegelwände, die in einer weiten Kurve nach links und rechts führten und weiter vorn wieder zur Verlängerung des Ganges zusammentrafen; in den Wänden niedrige, lang gezogene Nischen, in denen sich die Schatten zusammenballten. Die Decke war mit schwarzgepichtem Holz abgestützt, zwischen dessen Balken das Wasser herabtropfte und lange, bleiche Finger aus Lehm und Kalk gebildet hatte, die zu uns herabgriffen. Einzelne Wurzeln hatten sich durch die Spalten gezwängt und zitterten leicht in der Luftbewegung, die die Durchschreitenden verursachten. In den Nischen sah ich undeutliche Formen wie von altem Tuch, runden Steinen und blassem Gespinst. Dann tauchte ich hinter meinem Vorgänger in die Gangöffnung auf der gegenüberliegenden Seite ein. Bevor er mit seiner Fackel verschwand, streckte er sie wieder vor sich aus, und ich sah etwas, das mit Ruß in die Ziegelsteine über dem Gang gemalt war: ein wackliges, da und dort von Pilzen und Schimmel aufgelöstes pathetisches Kreuz.
Das Tuch in den Nischen war tatsächlich Tuch, die rundenSteine aber waren Schädelknochen und das Gespinst die Überreste von Haar, das noch an den Knochen haftete.
Für die Kirche waren sie Märtyrer, für die römische Besatzung damals nicht mehr als eine verhasste Sekte: die ersten Christen von Augusta Vindelicum, die sich hier geheime Katakomben gegraben hatten, so geheim, dass sie in Vergessenheit gerieten, als die Barbaren kamen und die alte Ordnung verfiel. War es eine Ironie, dass diejenigen, die sie offenbar wieder entdeckt hatten und für ihre eigenen verstohlenen Zusammenkünfte nutzten, wiederum als gefährliche Sekte verfolgt wurden? Alles, was ich wusste und woran ich geglaubt hatte, kehrte sich für einen schwindelnden Moment um, während ich den Grubenleuten weiter folgte, tiefer in die Katakomben hinein. Eine weitere Kammer voller Nischen, in denen zerfallende Körper die Zeit bis zum Jüngsten Tag
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