Das Spiel des Alchimisten: Historischer Roman (German Edition)
ersten Sekunde an erkennen müssen.
Doch hatte er sie damals kaum benutzt. Er hatte auf seinem Kutschbock gesessen und alle Versuche, ihn mit einem Gespräch auf die Ebene der normalen Sterblichen herabzuziehen, mit wenigen Worten zunichte gemacht. Die Haare waren kurz geschoren gewesen, das Gesicht glatt und voll und meistens ohne Ausdruck. Er hatte alt gewirkt, ohne es wirklich gewesen zu sein. Ich hatte mich damals gefragt, ob er schon mit abweisendem Gesichtsausdruck zur Welt gekommen war. Weder Kälte noch Regen noch die Aussicht auf einen Schluck von einem der teuren Weine Bischof Peters hatten ihn jemals verlocken können, den Posten auf dem Führersitz der bischöflichen Kutsche aufzugeben.
»Albert Klotz«, staunte ich, »der Leibkutscher des Bischofs.«
»Richtig, Bub«, dröhnte er, und obwohl ich schon lange kein Bub mehr war, machten mich seine Worte für ein paar Sekunden wieder dazu, »und in Ehren ergraut. Dass du dich traust, dein Gesicht hier zu zeigen, das ist schon eine Unverschämtheit.«
Elisabeth Klotz verschwand aus dem Zentrum der Aufmerksamkeit und wurde erneut durch meine Wenigkeit ersetzt. Sie war gekommen (endlich), und damit war das Leben in sein normales Muster zurückgekehrt; kein Grund mehr, von dieser Tatsache noch Notiz zu nehmen, wenn es etwas gab, dessen Existenz nicht zum täglichen Leben gehörte. Sie mochten alle halb taub sein und die meisten von ihnen so verrückt wie eine Ratte im Käfig, doch die donnernde Stimme von Albert Klotz hatte jeden erreicht. Sie starrten mich an. Elisabeth schien unangenehm überrascht von den harten Worten ihres Großvaters; Albert Klotz selbst funkelte mich unter seinen wirren Augenbrauen hervor an, als hätte das Ende der Freundschaft zwischen Bischof Peter und mir ihn mehr betroffen als uns; und als handelte es sich um Ereignisse, die nicht schon fast fünfzehn Jahre zurücklagen und im Lauf der Dinge so vollkommen untergegangen waren wie etwas Totes, das lange genug auf den Wellen der See getrieben ist.
Falsch; für mich war es nie untergegangen: etwas Totes, dessen Ende ich verschuldet hatte und das beständig auf der Oberfläche meiner Seele dahintrieb, um immer wieder schmerzhaft auf sich aufmerksam zu machen.
Ich atmete tief ein; dann trat ich zu Albert Klotz und setzte mich neben ihn.
Aus der Nähe besehen, war sein hageres, langes Gesicht grau und bartstoppelig. In den Mundwinkeln klebten die gelben Krusten eingetrockneten Speichels, in den Augenwinkeln gleichfarbige Unreinheiten von den unbewussten Tränen des Schlafes. Sein Haar war grau, wenn man es genau betrachtete, obwohl das Weiß seine natürliche Farbe gewesen wäre; aber es starrte vor Schmutz. An seinem Kinn, unter der altersspitzen Nase und an den deutlich hervortretenden Knochen des Unterkiefers hingen einzelne lange Bartsträhnen, die dem Auge des ohnehin nachlässigen Barbiers entgangen waren. Er roch nach Pferdestall und sauer gewordenem Schweiß, nach dem Urin, der ohne sein Zutun in die Schamkapsel rann, und nach dem Kot, der wahrscheinlich seine Unterschenkel besprenkelte, weil er sich auf dem Abtritt nicht mehr rechtzeitig setzen konnte. Seine Fingernägel waren so schwarz wie die eines Mannes, der in Kohlen gewühlt hat. Das Einzige, das nicht von einem trüben Film überzogen schien, waren seine Augen, die sich in die meinen bohrten. Mir war damals nie aufgefallen, dass sie von einem tiefen, klaren Blau waren, das fast wie Indigo wirkte und das er seiner Enkelin vererbt hatte. Er rückte beiseite und verzog gleichzeitig missmutig den Mund. Er war in keinster Weise mehr der Mann, den ich auf dem Kutschbock von Bischof Peters Kutsche tagaus, tagein hatte sitzen sehen. Er war das Symbol dafür, was sich in meiner alten Heimatstadt verändert hatte: Eine trübe Schicht bedeckte alles. Bei Albert Klotz bestand sie aus monatealtem Schmutz; was Augsburg anging, aus wortloser Furcht.
Eine Stadt, die belagert wird, hatte ich am Morgen gedacht. Ich berichtigte mich.
Eine Stadt, die belagert wird und dumpf ahnt, dass derFeind allen Anstrengungen zum Trotz bereits hinter die Mauern vorgedrungen ist.
Ich hatte Jana zugesagt, wir würden in Nürnberg wieder aufeinander treffen; sie und ihre Begleiter reisten langsam, während ich, ein einzelner Mann auf einem Pferd, schneller vorankam. Sie würde ohne mich weiterziehen müssen. Aus dem Aufenthalt eines Tages und dem schmerzhaften Geständnis einer Nacht war plötzlich eine Suche im Dunkeln geworden.
»Er hat die
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