Das Spiel des Alchimisten: Historischer Roman (German Edition)
vertrocknete, leere Zahnfleisch sichtbar wurde.
»Natürlich war ich gestern hier.«
»Du bist erst heute Morgen vom Spital zurückgekommen.«
»Ich war überhaupt nicht im Spital.«
»Sie haben dir den Bruch hochgebunden, damit du dir beim Gehen nicht auf die Eier trittst.«
Der Glatzköpfige hielt sich an der Tischkante fest und versuchte hektisch, in die Höhe zu kommen. »Meine Eier sind völlig in Ordnung«, stammelte er. »Da, ich zeig sie dir, du verdammter Lügner.«
»Hört auf, ihr Idioten«, krächzte der Mann, der mich zuerst angesprochen hatte, bevor es der Glatzköpfige schaffen konnte, sich in die Höhe zu stemmen oder seinen Hosenlatz aufzuschnüren. »Ich sag euch was ...«
»Diepold hat den Bruch, nicht ich«, schimpfte der Mann mit der Glatze.
»Diepold ist doch gar nicht da!« Jetzt begannen mehrere, sich in ihrer kläglichen Gruppe umzusehen. »Was, Diepold ist nicht da? Wo ist der alte Trottel?«
»Er ist nicht da, weil er nicht gehen kann mit seinen Eiern, die ihm bis auf den Boden hängen ...«
»Ich sag euch was!«, schrie der erste Sprecher und fuchtelte mit den Händen. Ich hielt mich an der Türklinke fest und fragte mich, warum ich die Gelegenheit noch nicht genutzt hatte, das Weite zu suchen. »Ich sag euch was!« Sie starrten ihn alle an und verstummten nach und nach, bis es still im Raum war. Der Sprecher hob beide Finger. »Ich sag euch was: Sie kommt heute nicht.«
Die Türklinke bewegte sich plötzlich in meiner Hand, und ich zuckte zurück. Die Tür schwang auf, und eine junge Frau huschte herein.
»Natürlich komme ich heute«, rief sie und lachte. »Ich bin schon da.«
Die Sonne ging auf in den eingefallenen Gesichtern. Sie erstrahlten wie ein Mann, als sie die Tür hinter sich schloss und sich im Raum umsah. Ihr Blick fiel dabei auf mich. Sie zog erstaunt die Augenbrauen hoch.
»Sie gehen merkwürdige Wege«, sagte ich. »Vom Grabmal des Bischofs in den Palast seines Nachfolgers.«
Sie stemmte die Hände in die Hüften und musterte mich eingehend. »Warum wollte ich gerade das Gleiche über Sie sagen?«
Ich streckte eine Hand aus. »Ich bin Peter Bernward.« Sie ergriff sie nicht. »Sollte mir der Name genügen?«
»Ich bin auf der Durchreise.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Grabmal von Bischof Peter von Schaumberg bereits zum Ziel von Pilgern geworden ist.«
»Ich bin kein Pilger.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Sie waren sein Freund.«
Plötzlich ergriff sie meine Hand, die ich gerade sinken lassen wollte. »Ich bin Elisabeth Klotz.«
Der Name weckte eine Erinnerung in mir, ohne sie wirklich ans Licht zu holen. Elisabeth Klotz ließ meine Hand los und drehte sich zu den alten Männern um. Sie hatten in der Zwischenzeit das glückliche Kindergrinsen von ihren Gesichtern gelöscht und dafür die Mienen von Menschen aufgesetzt, die in der Kirche auf die Wandlung warten (und überzeugt sind, dass dabei ein Wunder geschehen wird). Sie hatten sogar den Schläfer aufgeweckt, und ich erkannte in ihm den Mann, den Gregor für die Pflege seines Gauls herangezogen hatte. Elisabeth eilte zu ihm hinüber und küsste ihn auf die Wange, während er versuchte, vollends wach zu werden. Seine Augenbrauen standen ab wie die Borsten eines Igels und überschatteten die tief liegenden Augen vollkommen. Vom Schlaf waren seine hageren Wangen gerötet. Er blinzelte und grinste ebenso dämlich wie die anderen, noch bevor er sich völlig darüber im Klaren war, wo er sich befand. Sein Gesicht war mir schon bekannt erschienen, als ich ihn von Gregors Fenster aus beobachtet hatte; hier, aus der Nähe, wurde mir noch deutlicher, dass ich ihn von früher kannte. Ich starrte ihn an, ohne dass er es merkte; er hatte nur Augen für die junge Frau.
Diese legte ihm einen Arm um die Schultern und deutete zu meiner Überraschung auf mich. Er folgte ihrem Fingerzeig, und seine Augenbrauen rutschten beinahe bis zu seinem Haaransatz nach oben vor Erstaunen.
»Schau, Großvater«, sagte sie, »dieser Mann ist dafür verantwortlich, dass heute eine zweite Kerze für Bischof Peter gebrannt hat.« Sie zwinkerte mir zu. »Das freut dich doch, Großvater, oder nicht?«
»Zum Teufel«, polterte der Alte mit seiner weit tragenden Stimme, dass sogar seine fast tauben Genossen zusammenzuckten, »der Bub hat auch allen Grund dazu, für den alten Bischof eine Kerze anzuzünden. Verdankt ihm alles, der Bub!«
Die Erinnerung kam mit der Anrede, dabei hätte ich die Stimme schon von der
Weitere Kostenlose Bücher