Das Spiel des Schicksals
Treppenabsatz erreichte. »Und ich sehe dich dann wohl irgendwann … «
Nicht, wenn ich dich zuerst sehe, dachte Cat.
Es dauerte eine Weile, bis sie das Temple House wiedergefunden hatte. Der Platz lag nicht in der Seitenstraße, in der sie ihn vermutet hatte, und mit wachsendem Ärger wanderte sie etwa eine halbe Stunde herum und versuchte, ihren Weg von gestern Abend zurückzuverfolgen. Und als sie schließlich die richtige Abbiegung erwischte, wirkte der Platz wesentlich weniger beeindruckend, als sie ihn in Erinnerung hatte. Die Gebäude sahen im kalten Tageslicht schäbiger aus, und die Pracht, die ihrer Größe und ihrem Stil innewohnten, wurde durch hässliche Anbauten und schmutzige Fassaden deutlich geschmälert. Der kleine Park in der Mitte des Platzes, der Cat
im Dunkeln so dicht und geheimnisvoll vorgekommen war, erwies sich als abgetretene Rasenfläche, gesäumt von vertrocknet wirkenden Bäumen und ein paar struppigen Sträuchern.
Auch das Temple House war nicht so, wie sie es in der Nacht gesehen hatte. Der Lack auf der Tür blätterte ab, der Putz war dreckig und von Rissen durchzogen. Sie klingelte an der Haustür, aber durch die mit Holzläden verschlossenen Fenster drang kein Lebenszeichen. Im Briefkastenschlitz steckte eine Cheeseburgerverpackung. Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, hätte sie geglaubt, dass das Haus schon lange leer stand.
Cat ließ sich auf die Stufen sinken, die zur Eingangstür führten, und fluchte leise. Ihre rechte Hand kribbelte, und geistesabwesend rieb sie mit der Handfläche über ihre Jeans. Was wollte sie überhaupt hier? Schäbige Bücher und das Gebrabbel von irgendwelchen Vollidioten – das war doch alles Zeitverschwendung! Sie dachte, dass sie nicht einmal wusste, wonach genau sie suchte, während sie hinüber zu dem kleinen Park schaute. Dort kickten ein paar Typen mit Kapuzensweatshirts lässig eine Bierdose über den Rasen. Auf einer Bank unter einem schief gewachsenen Kirschbaum lag ein Obdachloser und schlief.
Wieder zog sie den Zeitungsartikel aus ihrer Hosentasche und starrte in das Gesicht des Toten, überlegte, was sie der Polizei sagen könnte. Ein Mann, den sie nicht wirklich identifizieren konnte, eine Sackgasse, die gar keine war, ein Spiel, das möglicherweise aus dem Ruder gelaufen war … Das alles war so weit hergeholt, und dabei
war sie noch nicht einmal zu dem Teil mit dem Geheimbund, der Lotterie und der Wundersamen Welt des Tarot gekommen. Aber wenn sie recht hatte, wenn es derselbe Mann war, dann mussten die Überwachungskameras an diesem Abend in Soho die Sache aufgezeichnet haben. Vielleicht hatte noch jemand etwas gesehen. Vielleicht war ja Anthony Linebegs Wohnung mit Tarotkarten tapeziert, auf denen irgendwelche Drohungen, Versprechungen oder Einladungen standen.
Wie auch immer, es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.
Sich zu einer Entscheidung durchzuringen, bedeutet nicht automatisch, voller Tatendrang aufzuspringen. Stattdessen blieb Cat auf den Stufen hocken, spielte mit ihrem Haar und schaute über den Platz.
Die Jugendlichen in den Kapuzenpullis und der alte Penner auf der Bank waren über irgendetwas in Streit geraten. Anfangs war sie nicht sicher, was los war, denn das Bild, das sie vor sich sah, war merkwürdig unscharf, als ob ihre Augen nicht fokussieren könnten. Dann blinzelte sie, und die Sicht wurde klar. Sie sah, dass der Penner aufgestanden war und jetzt wild mit den Armen wedelte und schrie. Die ausgefransten Mantelschöße wehten im Wind. Das aufreizende Gelächter seiner Gegenüber vermischte sich mit seinem Geplapper; einer von ihnen trat gegen die Dose, mit der sie gespielt hatten, sodass sie gegen das Bein des Mannes prallte. Es war eine Szene, wie man sie jeden Tag erlebte, überall in der Stadt, überall in jeder Stadt. Eine junge Mutter, die müde einen Kinderwagen
den Gehsteig entlangschob, schenkte dem Geschehen nur einen kurzen Blick. Und auch das elegante Paar, das auf der anderen Seite des Platzes aus dem Auto eines Immobilienmaklers stieg, achtete nicht weiter auf die Gruppe im Park.
Dann geschah etwas. Die Stimme des Obdachlosen erhob sich – ein schrilles Gekeife, ausgespuckt wie ein Fluch. Die jungen Männer lachten nicht mehr. Sie standen eng beisammen, die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen. Ihre bewegungslose Haltung hatte etwas Raubtierhaftes. Sie waren zu viert; am anderen Ende des Parks befand sich ein weiterer Junge, der eine an den Baum gebundene Katze mit Kieselsteinen
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