Das Spiel des Schicksals
gesehen, und plötzlich bekam ich schreckliche Angst.
Obwohl ich mich im Dunkeln fürchtete, hatte ich das Gefühl, dass ich das allein durchstehen musste. Wie eine Heldin. Und so zog ich meine Pantoffeln und den Morgenmantel an und ging zum Ende des Gartens und durch die Tür in den verlassenen Park. Da lag etwas – jemand – auf dem Weg. Es war Grace, in ihrem roten Abendkleid. Der Schnee bedeckte schon ihr Gesicht.
Ich weiß nicht mehr genau, was danach passierte. Alle schienen gleichzeitig anzukommen: meine Eltern, der Notarzt, die Polizei. Das Einzige, was wir mit Sicherheit wussten, war, dass Grace im Koma lag. Niemand wusste,
wie sie hierhergekommen oder was mit ihr passiert war. Sie war nie auf der Party gewesen. Sie hatte keine Verletzungen, keine Anzeichen einer Krankheit, weder Alkohol noch Drogen im Blut. Sie haben alles untersucht. Sie war … unberührt.
Ich habe niemandem die Karte gezeigt, die ich neben ihr gefunden habe. Es war das Bild einer Frau, gefesselt und mit einer Augenbinde in einem Käfig aus Schwertern. Ich erzählte auch niemandem, warum Grace ein Stück rotes Band um den Zeigefinger gebunden hatte. Ich wusste, dass es Graces Geheimnis war; sie hätte nicht gewollt, dass ich es verriet. Anfangs, weißt du, dachten wir, sie würde wieder aufwachen.
Meine Eltern ließen mich zu Hause, während sie mit Grace ins Krankenhaus fuhren. Und am nächsten Morgen ging ich sehr früh wieder durch den Garten in den Park. Alles war mittlerweile dick verschneit und in reines Weiß getaucht. Ich ging zu der Stelle, wo ich Grace gefunden hatte, lief in einem Kreis herum, und da sah ich etwas Rotes am Zaun des Parks flattern. Es war ein dünner Seidenfaden. Ein Stück des Bandes, das Grace an ihren Finger geknotet hatte, wie Theseus im Labyrinth. Ich nahm das Ende des Fadens und folgte ihm durch den Park, bis ich das Sommerhaus erreichte. Dort saßen ein junger Mann und eine Blondine und tranken heiße Schokolade. Ich weiß noch, dass ich dachte, wie schön diese Frau war, eingehüllt in weißen Pelz.
›Wie reizend, dass du gekommen bist‹, sagte sie und nahm mir die Karte aus der Hand.
›Was haben Sie mit meiner Schwester gemacht?‹, fragte ich.
›Sie hat die falsche Abzweigung genommen‹, erwiderte der Mann. Und mehr wollten sie mir nicht sagen. Weder damals noch später.
Meine Eltern glauben, dass ihre Tochter die letzten fünf Jahre regungslos in einem Krankenzimmer verbracht hat. Sie haben irgendwann damit aufgehört, von dem Tag zu reden, an dem sie zu uns zurückkommen wird. Ich weiß es besser. Denn ich weiß, dass Grace – die echte Grace – irgendwo im Arkanum gefangen ist. Das ist der Grund, warum die Schwelle im Park noch existiert. Ob mein Band ihr nun half oder ihr Unglück brachte – es war jedenfalls eine Einmischung und veränderte den Lauf des Spiels. Deshalb wurde der Spielzug nie beendet. Solange die Schwelle da ist, ist auch meine Schwester da. Und ich weiß, dass sie zurückkommen kann.«
Flora hatte ihren Bericht sachlich vorgetragen, fast gefühllos. Cat wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie war Vertraulichkeiten oder Geständnisse nicht gewohnt. Vielleicht wäre es einfacher gewesen, wenn Flora weinend zusammengebrochen wäre. Dann hätte sie gewusst, wie sie reagieren sollte.
Cat kannte die Karte, von der Flora gesprochen hatte: die Acht der Schwerter. Sie dachte an die anderen Gefangenen des Arkanums – an die Bewohner jener glitzernden Gewächshäuser, an den Ritter unter dem Eis, an den Gehängten an seinem Baum – und sie fragte sich wieder
einmal, was für alles verzehrende Hoffnungen und Ängste sie ins Spiel getrieben hatten. Cat wusste jetzt, worum Flora spielte, aber was war mit Grace – Grace, der Glänzenden, Grace, die alles hatte? Und was war mit ihrer Mutter und ihrem Vater? Wenn sie die Chance gehabt hätten, ins Spiel einzusteigen, um welchen Preis hätten sie gespielt?
»Es tut mir leid«, sagte sie endlich. Die Worte klangen so jämmerlich.
Flora schien sie nicht gehört zu haben. »Natürlich habe ich weitergesucht, aber nicht so gründlich, wie ich es gekonnt hätte. Wenn ich zu oft ins Arkanum gehe, habe ich Angst, dass es mir so ergehen würde wie meiner Schwester – dass ich ebenfalls besessen davon werde.« Dann schüttelte sie leicht den Kopf, als müsste sie sich aus einem Traum aufwecken. »Aber ich weiß wirklich nicht, warum ich dich mit dieser Sache langweile, Cat. Das ist ja nicht dein Problem.«
»Meine Eltern waren
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