Das Spiel
anderen Seite der Überführung. Zuerst kann ich nichts erkennen. Dann höre ich es wieder. Ich gehe hinter einem der gewaltigen Betonstützpfeiler der Überführung in Deckung. Der Verkehr über mir summt fröhlich weiter, und ich konzentriere mich hier unten auf das Poltern. Von meinem Standort aus kann ich die Quelle nicht erkennen. Rasch laufe ich von Pfeiler zu Pfeiler und arbeite mich tiefer unter die Überführung vor. Wieder würfelt jemand. Als ich vorsichtig um den Betonpfeiler herum spähe, habe ich zum ersten Mal einen freien Blick. Auf der Straße hinter der Überführung parkt eine Reihe Autos. Doch was ich suche, befindet sich weiter links.
Dort führt eine Auffahrt über den Bürgersteig zu einem Kiesparkplatz, auf dem ein verrosteter Müllcontainer steht. Neben dem Container mache ich die Quelle der Geräusche aus. Würfel auf einem Spielbrett oder eben winzige Kieselsteine, die jemand mit den Füßen wegtritt.
Direkt vor mir geht der Page den Kiesweg hoch. Mit einem kurzen Schulterzucken streift er seine Anzugjacke ab, reißt sich den Schlips herunter und wirft beides in hohem Bogen in den Container. Ohne seine Schritte zu verlangsamen, kehrt er um und geht zum Bürgersteig zurück. Es scheint ihn zu freuen, sich seines Affenkostüms entledigt zu haben. Es ergibt keinen Sinn.
Ich habe mittlerweile einen Kloß, so dick wie ein Tennisball, in meinem Hals. Unter den Füßen des Pagen spritzen wieder die Kiesel nach allen Seiten. Im Weitergehen klopft er unaufhörlich mit dem Umschlag gegen seinen Schenkel. Mir kommen Zweifel, ob ich da tatsächlich einen Senatspagen vor mir sehe.
Wie konnte ich nur so dumm sein? Ich habe mir nicht einmal seinen Namen gemerkt.
Mein Blick schießt zum Container und zu dem Pagen zurück. Am Ende des Blocks biegt er nach links ab und verschwindet aus meinem Blickfeld. Ich gebe ihm einige Sekunden, um es sich zu überlegen. Er taucht nicht wieder auf. Das ist mein Stichwort. Trotz seines Vorsprungs habe ich genügend Zeit, ihn einzuholen, doch vorher ...
Ich springe hinter dem Pfeiler hervor, laufe über den Bürgersteig und lasse die Überführung hinter mir. Ich haste über den Kies geradewegs zu dem Container. Er ist so hoch, daß selbst ich nicht über den Rand sehen kann. An der Seite ist eine Mulde, in der ein Fuß gerade Halt findet. Mein Anzug ist bereits ruiniert. Also nichts wie rein ...
Mit einem Ruck ziehe ich mich hoch. Ich rolle mich über den Rand des Containers und lasse die Füße hinunterbaumeln. Es ist wie am Rand eines Swimming-Pools, nur schmutziger und der Gestank ist beißend und ekelhaft. Ich sehe mich noch einmal um. Das Neonschild an einem rosa Gebäude verkündet: Platinum Gentleman's Club. Sonst ist niemand zu sehen. In diesem Viertel findet die Action nachts statt.
Ich starre in den Behälter mit Müllsäcken und stoße mich mit einem kleinen Ruck ab.
Meine Füße stampfen durch das Plastik. Ich erwarte ein Knirschen, aber stattdessen spritzt es. Meine Anzugschuhe füllen sich mit Flüssigkeit, und meine Socken saugen die Brühe auf wie ein Schwamm. Ich versinke bis zur Hüfte im Müll und sage mir, daß es sich nur um Bier handelt. Ich wate zur anderen Seite des Containers und hebe die Arme über meine Schultern. Bloß nichts berühren! Dann bücke ich mich, schnappe mir das marineblaue Jackett, halte es hoch über den Müll und suche nach dem blauen Namensschild.
SENATSPAGE Viv Parker
Was hat ein Mädchenname am Jackett eines Jungen zu suchen?
Ich löse das Namensschild vom Revers und suche nach anderen Kennzeichnungen. Nichts, nur ein einfaches Plastikschild ...
Eine Wagentür schlägt zu. Bei dem Geräusch fahre ich herum. Ich sehe nur die vergammelten Wände des Containers. Es wird Zeit auszusteigen. Ich umklammere das Namensschild mit einer Hand und werfe mir das Jackett über die Schulter. Dann packe ich den Rand des Containers mit meinen langen, dünnen Fingern. Ich hole kräftig Schwung und ziehe mich hoch. Meine Füße kratzen und rutschen an der Wand entlang und suchen einen Halt. Mit einem letzten Stoß drücke ich meinen Bauch gegen den oberen Rand und ruckele mich hoch, bis ich mein Gewicht halten kann. In der Ferne quietschen Reifen, aber darauf kann ich jetzt nicht achten. Wie ein Rekrut bei der Armee, der eine Wand auf dem Hindernisparcours überwinden will, drehe ich mich über den Rand und springe, mit den Füßen voran, zu Boden. Das Gesicht zum Container gewendet. Als meine Schuhe auf dem Zement aufprallen,
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