Das Spiel
»Das ist doch 2406, richtig?«
»Allerdings«, erwiderte der Junge und wühlte im Postausgangskorb. »Aber ich habe keinen Pagen gerufen.«
»Irgend jemand hat es jedenfalls getan«, erwiderte Viv. »Ein Päckchen für den Sitzungssaal.«
Der junge Mann straffte sich unwillkürlich. Alle hatten Angst vor ihrem Boß, genau wie Harris es vorhergesagt hatte.
»Darf ich Ihr Telefon benutzen?« fragte Viv.
Er deutete auf den Apparat auf dem schmiedeeisernen Tisch im Western-Stil am Ende. »Ich erkundige mich kurz hinten, ob jemand anders angerufen hat.«
»Großartig, danke.« Viv wartete, bis der Mann durch eine Tür verschwand. Kaum war er weg, nahm sie den Hörer ab und wählte die fünfstellige Nummer, die Harris ihr gegeben hatte.
»Dinah«, antwortete eine weibliche Stimme. Als Matthews Bürokollegin und Chefangestellte für den Bewilligungsunterausschuß des Inneren im Repräsentantenhaus verfügte Dinah über weitreichenden Zugriff und bemerkenswert viel Einfluß. Doch wichtiger war ihre Anruf-Identifizierungsschaltung. Deshalb mußte laut Harris der Anruf von hier aus getätigt werden. Denn in demselben Moment erschienen die Worte Hon. Cordell auf Dinahs Telefondisplay.
»Hallo, Dinah.« Viv senkte ihre Stimme und bemühte sich um einen glatten Tonfall. »Hier spricht Sandy aus Cordells persönlichem Büro. Tut mir leid, daß ich Sie behelligen muß, aber der Kongreßabgeordnete möchte sich einige von Matthews Projektbüchern ansehen, nur um sicherzugehen, daß er für die Konferenz im Zeitplan ist...«
»Das ist keine so gute Idee«, entgegnete Dinah.
»Wie bitte?«
»Ich meine ... Die Informationen in den Büchern ... Es ist nicht klug, sie aus dem Büro zu geben.«
Harris hatte Viv gewarnt, daß genau dies passieren könnte. Deshalb hatte er ihr die ultimative Erwiderung eingeschärft.
»Der Kongreßabgeordnete möchte sie sehen.«
Am anderen Ende der Leitung herrschte eine kurze Denkpause. »Ich lege sie zurecht«, lenkte Dinah schließlich ein.
Hinter Viv öffnete sich die Tür, und der junge Angestellte kam wieder herein.
»Großartig«, stammelte Viv in die Muschel. »Ich lasse sie von jemandem abholen.«
Sie legte auf und drehte sich zu dem Empfangstresen um. »Tut mir leid, falsches Zimmer.« Sie ging rasch zur Tür.
»Keine Sorge«, gab er zurück. »Nichts passiert.«
***
Viv wartete nicht auf den Aufzug, sondern lief die drei Treppen hinunter. Sie nahm die letzten beiden Stufen mit einem Satz und landete auf dem polierten Boden im Erdgeschoß des Rayburn Building. Im Durchschnitt lief jeder Senatspage etwa sieben Meilen Korridor am Tag, während er Pakete abholte und austrug.
Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust, als sie um die Ecke eines geisterhaft weißen Flures bog. Viv Parker trug endlich nicht mehr nur Post aus, sondern tat endlich das, was das Pagenprogramm ursprünglich versprochen hatte. Sie spielte eine Rolle in jemandes Leben.
Vor Raum B-308 kam sie rutschend zum Stehen. Einen Augenblick hielt sie inne. Es war immer noch Matthews Büro, und wenn sie nicht aufpaßte, würde sie die Sache niemals durchziehen. Bevor sie die Tür öffnete, warf sie einen prüfenden Blick durch den Flur, wie Harris sie angewiesen hatte. Links von ihr stand die Tür eines Wandschranks halb offen. Der Flur rechts von ihr war leer.
Sie hielt die Luft an und drehte den Messingknopf. Er war überraschend kalt. Als sie ihr Gewicht gegen die Tür lehnte, hörte sie als erstes das Klingeln eines Telefons links von ihr hinter dem Sioux-Wandteppich. Harris hatte ihn beschrieben.
Viv folgte dem Klingeln, vorbei an den überfüllten Post-Ein- und Ausgangsablagen auf den Rändern der Schreibtische, und bog um die Ecke. Es erleichterte sie, daß die Empfangsdame schwarz war. Wortlos schaute Roxanne sie an, musterte ihren Ausweis und nickte ihr beinahe unmerklich zu. Viv hatte das mindestens schon ein Dutzend Mal erlebt, bei den Serviererinnen in der Cafeteria, den Fahrstuhlführerinnen, selbst bei der Kongreßabgeordneten Peters.
»Was brauchen Sie, Süße?« fragte Roxanne sie mit einem herzlichen Lächeln.
»Ich soll Unterlagen abholen.« Als Harris Viv in seinen Plan eingeweiht hatte, hatte sie befürchtet, es könnte vielleicht jemand stutzen, warum ein Senatspage im Repräsentantenhaus eine Besorgung machte. Roxanne schenkte ihr nicht einmal einen zweiten Blick. Ganz gleich, was auf dem Namensschild steht. Selbst für Re-zeptionisten ist ein Page ein Page.
»Ist Dinah ...?«
»Geradewegs durch
Weitere Kostenlose Bücher