Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)
unerbittlichen Gier nach Macht oder Reichtum, wie etwa Ihr Onkel, niemals ataraxia erreichen können, weil Begierden sich vermehren. Je mehr man hat, desto mehr haben sie einen. Wenn Sie daran denken, sich hier ein Leben einzurichten, denken Sie daran, ataraxia anzustreben. Betten Sie sich in jenem Teil Ihrer Gemeinde ein, in dem Ihre Anspannung am niedrigsten ist. Heiraten Sie jemanden, der ähnlich empfindet wie Sie – Sie werden viele Conversos finden, die am Judentum nur deshalb festhalten, um in einer Gemeinde geborgen zu sein. Und wenn die anderen Mitglieder der Gemeinde mehrmals im Jahr Gebetsrituale absolvieren, dann beten Sie mit ihnen in dem Wissen, dass Sie es nur der ataraxia zuliebe tun und nur, um die Konflikte und die Spannungen zu vermeiden, die auftreten, wenn Sie nicht daran teilnehmen.«
»Wollen Sie mir etwas einreden, Bento? Ist es so, dass ich mich auf ataraxia einlassen soll, während Sie nach Höherem streben? Oder werden auch Sie nach ataraxia streben?«
»Eine schwierige Frage. Ich glaube …« Plötzlich läuteten die Kirchenglocken. Bento lauschte kurz dem Geläut, warf einen Blick auf seine gepackte Tasche und fuhr dann fort: »Ach, die Zeit, in sich zu gehen, ist kurz. Ich muss sehr bald fortgehen, bevor die Straßen zu voll werden. Nur noch schnell dies: Ich habe ataraxia nicht ausdrücklich zu meinem Ziel gewählt, sondern sehe es als mein Ziel an, meine Vernunft zu perfektionieren. Vielleicht ist das Ziel jedoch dasselbe, obwohl sich die Methode unterscheidet. Die Vernunft führt mich zu der außerordentlichen Schlussfolgerung, dass alles auf der Welt eine einzige Substanz ist, welche die Natur ist oder Gott, wenn Sie wollen, und dass alles ohne Ausnahme im Licht des Naturgesetzes verstanden werden kann. Während ich mehr Klarheit über das Wesen der Wirklichkeit gewinne, erlebe ich gelegentlich einen Zustand der Freude oder Glückseligkeit, obwohl ich weiß, dass ich nur ein Kräuseln auf der Oberfläche Gottes bin. Vielleicht ist das meine Variante von ataraxia . Vielleicht hat Epikur Recht, wenn er uns rät, nach Seelenruhe zu streben. Aber jeder Mensch muss nach den gegebenen äußeren Umständen, nach seinen natürlichen Begabungen und seinen inneren geistigen Eigenschaften seinen eigenen Weg finden, nach ataraxia zu streben.«
Abermals läuteten die Glocken.
»Bevor wir uns trennen, Franco, habe ich eine letzte Bitte an Sie.«
»Sprechen Sie. Ich stehe tief in Ihrer Schuld.«
»Ich bitte Sie nur darum zu schweigen. Ich habe Ihnen heute Dinge gesagt, die nichts als halbgare Gedanken sind. Vor mir liegt eine Menge Denkarbeit. Versprechen Sie mir, dass alles, worüber wir uns heute unterhalten haben, unser Geheimnis bleibt. Ein Geheimnis vor den Parnassim , vor Jacob, vor allen Menschen und für alle Zeiten.«
»Sie haben mein Versprechen, dass ich Ihre Geheimnisse mit ins Grab nehmen werde. Mein Vater, Gott habe ihn selig, lehrte mich viel über die Heiligkeit des Schweigens.«
»Nun müssen wir Abschied nehmen, Franco.«
»Warten Sie nur noch einen Augenblick, Bento Spinoza, denn auch ich habe ein letztes Anliegen. Sie sagten gerade, dass wir vielleicht ähnliche Ziele im Leben und ähnliche Zweifel haben, aber dass jeder von uns einen anderen Weg einschlagen muss. Deshalb werden wir auf gewisse Weise ein unterschiedliches Leben führen, das auf das gleiche Ziel zusteuert. Wer weiß, wenn das Schicksal und die Zeit nur eine winzige Wendung genommen und unsere äußeren Umstände und unser Temperament nur ein wenig verändert hätte, dann hätten Sie mein Leben führen können und ich das Ihre. Und nun mein Anliegen: Ich möchte von Zeit zu Zeit von Ihrem Leben erfahren, selbst wenn es nur einmal im Jahr, jedes zweite oder jedes dritte Jahr wäre. Und ich möchte, dass auch Sie wissen, wie sich mein Leben entwickelt. So können wir beide sehen, was hätte sein können – das andere Leben, das wir hätten führen können. Wollen Sie mir versprechen, in Kontakt mit mir zu bleiben? Ich weiß noch nicht, wie wir es anstellen können. Aber werden Sie mir von Ihrem Leben berichten?«
»Ich möchte es nicht weniger als Sie, Franco. Mein Verstand weiß um die Notwendigkeit, mein Zuhause zu verlassen, aber mein Herz schwankt stärker, als ich erwartet hatte, und ich begrüße Ihr verlockendes Angebot, mein alternatives Leben zu betrachten. Ich kenne zwei Menschen, die immer wissen werden, wo ich bin: Franciscus van den Enden und ein Freund, Simon de Vries, der an der Singel
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