Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)
weil unser Ehrgefühl uns dazu zwingt, den Glauben des Märtyrers fortzuführen, auch wenn wir wissen, dass er mit Irrtümern und Aberglauben befrachtet ist. Gaben Sie mir nicht zu verstehen, dass Sie nach dem Märtyrertod Ihres Vaters ähnlich empfanden?«
»Ja – dass ich seinem Leben den Sinn nähme, wenn ich genau das verleugnete, wofür er starb.«
»Aber wäre es nicht auch sinnlos, das einzige Leben, das Sie haben, einem falschen und abergläubischen System zu opfern – einem System, das nur ein einziges Volk auserwählt und alle anderen Wesen ausschließt?«
»Bento Spinoza, Sie strapazieren meinen Kopf zu sehr. Einen Schritt weiter, und er wird zerspringen. Ich habe es nie gewagt, über solche Dinge nachzudenken. Ich kann mir nicht vorstellen, ohne meine Gemeinde, ohne meine Gruppe zu leben. Warum fällt es Ihnen so leicht?«
»Leicht? Es ist nicht leicht, aber es ist leichter, wenn die eigenen Angehörigen tot sind. Meine lebenslange Exkommunikation stellt mich nun vor die Aufgabe, meine Identität vollkommen neu zu gestalten und zu lernen, ein Leben zu führen, ohne Jude, Christ oder Angehöriger irgendeiner anderen Religion zu sein. Vielleicht werde ich der erste Mensch sein, auf den das zutrifft.«
»Seien Sie auf der Hut! Es ist möglich, dass Ihre lebenslange Exkommunikation in Wirklichkeit nicht lebenslang sein wird. Andere Leute gestehen Ihnen vielleicht nicht den Luxus zu, kein Jude zu sein. Baruch, was wissen Sie über die limpiezas de sangre ?«
»Die iberischen Blutgesetze? Nicht sehr viel, außer dass Spanien sie einführte, um konvertierte Juden daran zu hindern, zu viel Macht zu erlangen.«
»Wie mein Vater mir erzählte, begann es mit Torquemada, dem Großinquisitor, der Königin Isabella vor zweihundert Jahren davon überzeugte, dass der jüdische Makel im Blut auch nach einer Konversion zum Christentum bestehen bliebe. Da Torquemada selbst in der vierten Generation vor ihm jüdische Vorfahren hatte, verfügte er, dass die Blutgesetze bis drei Generationen rückwirkend anzuwenden seien. Daher stehen heutige Conversos und selbst diejenigen, die zwei oder drei Generationen älter sind, unter strengem Verdacht, und viele Karrieren bleiben ihnen versagt – in der Kirche, beim Militär, in vielen Gilden und in öffentlichen Ämtern.«
»Offenkundig willkürliche Überzeugungen, wie ›drei, aber nicht vier Generationen‹, wurden augenscheinlich erfunden, um dem Urheber einen Dienst zu erweisen. Falsche Überzeugungen wird es so lange geben, wie es Arme auf der Welt gibt, und ich kann nichts gegen ihr Fortbestehen tun. Und nun strebe ich danach, mich nur noch um die Dinge zu kümmern, die ich selbst beeinflussen kann.«
»Wie zum Beispiel?«
»Ich glaube, dass ich wirkliche Kontrolle nur über eines habe: über den Fortschritt meiner Erkenntnis.«
»Bento, mir liegt etwas auf der Seele, von dem ich weiß, dass es unmöglich ist.«
»Aber nicht unmöglich, es zu sagen?«
»Ich weiß, es ist unmöglich, aber ich möchte Sie begleiten! Sie denken bedeutende Gedanken, und ich weiß, dass Sie noch bedeutendere denken werden. Ich möchte Ihnen folgen, Ihr Schüler sein, Ihr Diener, ich möchte teilhaben an dem, was Sie tun werden, Ihre Manuskripte abschreiben, Ihnen Ihr Leben erleichtern.«
Bento sagte einen Augenblick lang nichts. Er lächelte und schüttelte dann den Kopf.
»Das, was Sie da sagen, ist schmeichelhaft, ja sogar verführerisch für mich. Lassen Sie mich darauf von innen her wie auch von außen her antworten.
Zuerst von innen her. Obwohl ich mir ein zurückgezogenes Leben wünsche und es unbedingt anstrebe, spüre ich, dass ein anderer Teil in mir sich nach Vertrautheit sehnt. Manchmal kann ich in eine unbeschreiblich starke Sehnsucht nach lange entbehrten Gefühlen abgleiten, nach Geborgenheit in einer trauten Familie, und dieser Teil von mir – der sich sehnende Teil – begrüßt Ihren Wunsch, möchte Sie am liebsten in die Arme schließen und ›ja, ja, ja!‹ rufen. Gleichzeitig schreit ein anderer Teil in mir, mein stärkerer und wichtigerer Teil, nach Freiheit. Es schmerzt mich, dass die Vergangenheit vergangen ist und niemals zurückkehren wird. Es schmerzt mich, daran zu denken, dass alle diejenigen, die mir Geborgenheit gaben, tot sind, und ich hasse auch diesen Schmerz, der mich in Ketten legt und mich bremst. Ich kann vergangene Ereignisse nicht beeinflussen, aber ich habe mich entschlossen, für die Zukunft starke Bindungen zu vermeiden. Ich werde mich
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