Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)
niemals mehr in meine kindische Sehnsucht hüllen, geborgen sein zu wollen. Verstehen Sie das?«
»Ja, viel zu gut.«
»So viel zum Inneren. Lassen Sie mich nun von außen her antworten: Ich vermute, Ihr Wort ›unmöglich‹ bezog sich auf die Unmöglichkeit, Ihre Familie zu verlassen. Wäre ich an Ihrer Stelle, wäre es mir auch unmöglich. Mir selbst fällt es schon schwer genug, meinen jüngeren Bruder zu verlassen. Meine Schwester hat ihre eigene Familie, und um sie mache ich mir weniger Sorgen. Aber es ist nicht nur Ihre Familie, Franco, die Sie daran hindert, sich mir anzuschließen. Es gibt andere Hindernisse. Erst vor wenigen Minuten sagten Sie mir, dass Sie sich ein Leben ohne eine Gemeinde nicht vorstellen könnten. Doch mein Weg ist ein Weg der Einsamkeit, und, abgesehen von der vollkommenen Absorption in Gott, sehnt er sich nach keiner Gemeinschaft. Ich werde niemals heiraten. Und selbst wenn ich eine Heirat wünschte, wäre es nicht möglich. Als einzelgängerische Kuriosität kann ich vielleicht ohne Religionszugehörigkeit leben, aber es ist zweifelhaft, ob es selbst in Holland, dem tolerantesten Land der Welt, einem Paar gestattet wäre, ein solches Leben zu führen und Kinder zu erziehen, ohne einer Kirche anzugehören. Und mein einzelgängerisches Leben heißt auch: keine Tanten, keine Onkel, keine Vettern, keine Familienfeste, kein Pessachmahl, kein Rosh Hashanah . Nur Einsamkeit.«
»Ich verstehe, Bento. Ich verstehe, dass ich geselliger bin und vielleicht größere Bedürfnisse habe. Ich bewundere Ihre außerordentliche Selbstgenügsamkeit. Mir scheint, Sie wollen niemanden und brauchen niemanden.«
»Das habe ich schon so oft gehört, dass ich allmählich selbst daran glaube. Es ist nicht so, dass mir die Gesellschaft anderer Menschen keine Freude bereitete – in diesem Augenblick genieße ich unser Gespräch, Franco. Aber Sie haben Recht: Ein gesellschaftliches Leben ist für mich nicht lebenswichtig. Jedenfalls nicht so lebenswichtig, wie es für andere zu sein scheint. Ich erinnere mich, wie verstört meine Schwester und mein Bruder immer waren, wenn sie zu irgendeiner Veranstaltung mit ihren Freunden nicht eingeladen wurden. So etwas störte mich nie im Geringsten.«
»Ja«, nickte Franco, »Das stimmt. Ich könnte nicht so wie Sie leben. Das ist mir tatsächlich fremd. Aber überlegen Sie, Bento, welche andere Wahl mir bleibt. Vor Ihnen steht jemand, der so viele Ihrer Zweifel und auch Ihre Wünsche, frei von Aberglauben zu leben, mit Ihnen teilt, und doch ist es mein Schicksal, mich in eine Synagoge zu setzen, zu einem Gott zu beten, der mich nicht hört, törichten Ritualen zu folgen, als Heuchler zu leben, ein bedeutungsloses Leben anzunehmen. Ist es das, was mir bleibt? Ist es das, worum es im Leben geht? Werde ich selbst mitten unter Menschen nicht in ein einsames Leben gezwungen?«
»Nein, Franco, es ist nicht so trostlos. Ich beobachte diese Gemeinde schon sehr lange, und es wird für Sie eine Möglichkeit geben, hier zu leben. Jeden Tag strömen Conversos aus Portugal und Spanien nach Amsterdam, und viele, das stimmt, sehnen sich aus tiefstem Herzen danach, zu den jüdischen Wurzeln ihrer Vorfahren zurückzukehren. Da niemand von ihnen eine jüdische Erziehung genossen hat, müssen sie Hebräisch und das jüdische Gesetz wie Kinder lernen, und Rabbi Mortera arbeitet ohne Unterlass, um sie wieder ins Judentum heimzuführen. Viele werden ihm nacheifern und noch religiöser als der Rabbi werden, aber glauben Sie mir, es wird andere wie Sie geben, die durch ihre erzwungene Konversion zum Christentum von Religionen insgesamt enttäuscht sind und sich ohne religiösen Eifer der jüdischen Gemeinde anschließen werden. Wenn Sie nach diesen Menschen Ausschau halten, werden Sie sie auch finden, Franco.«
»Aber trotzdem, dieses So-tun-als-ob, diese Heuchelei –«
»Ich will Ihnen etwas über Epikurs Gedanken erzählen. Epikur war ein weiser griechischer Denker der Antike. Er glaubte, was jeder vernünftige Mensch glauben muss, dass es kein Weiterleben nach dem Tod gibt und dass wir unser einziges Leben so friedlich und freudvoll wie möglich leben sollen. Was ist der Zweck des Lebens? Seine Antwort war, dass wir nach ataraxia streben sollten, was vielleicht mit ›Seelenruhe‹ oder ›Freiheit von emotionaler Anspannung‹ übersetzt werden könnte. Er führte aus, dass die Bedürfnisse eines weisen Menschen gering und leicht zu befriedigen seien, wohingegen Menschen mit einer
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