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Das spröde Licht: Roman (German Edition)

Das spröde Licht: Roman (German Edition)

Titel: Das spröde Licht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tomás González
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verfolge die Ereignisse gespannt, denn er wolle, wenn die Sache gutginge, denselben Weg einschlagen. Für Michael war der zehn Jahre ältere Jacobo ein Idol. Umgekehrt mochte Jacobo Michael sehr und bewunderte ihn wegen seiner medizinischen Kenntnisse, die zwar auf sein eigenes Leiden beschränkt, jedoch bemerkenswert waren für einen so jungen Menschen, der sein Wissen selbst erworben hatte. Angelesen und buchstäblich am eigenen Leibe studiert – der Arme!
    Wie schön Venus in dem Licht aussah, das von der Lampe über der Staffelei auf sie fiel! Sie hatte diesen nüchternen, gar nicht weinerlichen Ausdruck der Traurigkeit eines Menschen, der jeden Tag das tiefste Leid mit ansehen muss. Mir fielen wieder die Totenbilder der Frauen aus den römischen Gräbern in Ägypten ein, und ich dachte an die Schwermut des Todes, die auf einigen zu sehen ist.
    »It is fucking hard«, sagte sie.
    »Ja. Fucking hard«, erwiderte ich, der ich sonst nie solche Wörter in den Mund nehme.
    Ohne dass ich sie darum gebeten hätte, ging Venus in die Küche und kam mit einem Kaffee zurück, den sie mir auf den kleinen Tisch neben der Staffelei stellte. Sie betrachtete das Bild mit offensichtlicher Bewunderung und ohne etwas zu sagen. Halb drei Uhr morgens. Wie man doch ein Gemälde mit sechs oder sieben Pinselstrichen in kaum fünf Minuten verändern kann! In diesem Kampf kommt es weniger auf den Pinsel an als vielmehr auf das Auge, die Pforte der Wahrnehmung, die sich manchmal nicht öffnen will, nicht einmal einen Spalt.
    Aus der Küche drang Lachen. Bestimmt gab Arturo wieder einmal eine seiner Vorstellungen. Tatsächlich war unser Kasper gerade dabei, eine Unterhaltung zwischen Preet und mir nachzuahmen, und dabei spielte er beide Rollen: Als Preet saß er auf dem einen Stuhl und wechselte, wenn er mich spielte, flugs rüber auf einen anderen Stuhl.
    »Der Sikhismus hat seinen Ursprung im 15. Jahrhundert«, sang Arturo im stärksten Punjabi-Tonfall, um dann auf meinen Stuhl zu huschen, wo er die Beine übereinanderschlug. Er ist ohnehin mager und groß, aber sobald er in meine Haut schlüpfte, wirkte er noch magerer und noch größer und mit einem Mal sehr gelassen.
    »Was Sie nicht sagen! Is that a fact?«
    Arturo gelang es auch, die unendlich lange Pause wiederzugeben, die dann immer folgte. Danach ließ er sich wieder auf Preets Stuhl nieder.
    »Das Wort ›Sikh‹ stammt aus dem Sanskrit und ist von sisya abgeleitet, was ›Schüler‹ bedeutet, oder von śiksa , was ›Lehre‹ bedeutet. Wir Sikhs sind Jünger des Guru.«
    Wieder ein Spurt auf meinen Stuhl.
    »Incredible, isn’t it, Sara?«, sagte Arturo in meinem durchaus korrekten Englisch, aber mit starkem Medellín-Akzent. Mit dieser Bemerkung parodierte er einen meiner verzweifelten Versuche, Preets Aufmerksamkeit von mir auf Sara umzulenken.
    Als Arturo mit seinem Theater fertig war, blieben wir schweigend am Tisch sitzen und tranken weiter unseren Tee oder Kaffee. Plötzlich verdüsterte sich Saras Gesicht, und sie flüchtete sich ins Schlafzimmer, wo niemand sie sehen konnte. Keiner folgte ihr, um sie zu trösten. Wir wussten nur zu gut, dass das nicht möglich war und sie außerdem allein sein wollte.

dreiundzwanzig
    Gestern hatte ich vor dem Einschlafen plötzlich das Bedürfnis, wieder einmal das richtig warme Klima zu erleben, und beschloss, heute nach Girardot zu fahren, der Stadt am Río Magdalena, die ich bereits erwähnt habe und die heiß, verfallen, aber immer noch schön ist. Hier sitze ich nun um halb sieben am Abend des sechsten Juli 2018 in meinem Hotelzimmer am Schreibtisch, an dem ich meine Lupe mit ihrem mehrgliedrigen Arm festgeschraubt habe, und versuche ein paar weitere Zeilen zu Papier zu bringen. Das Fenster steht offen, die Grillen der tierra caliente zirpen, der schwere Geruch der tropischen Vegetation, den ich so mag, dringt herein. Wie glücklich ich manchmal bin! Ich lege den Füller beiseite und gehe hinaus, um an einem der Tische am Rand des prächtigen Schwimmbeckens eine Pielroja zu rauchen und wie jeden Abend mein kühles Bier zu trinken, vielleicht auch zwei.
    Zehn Uhr morgens. Gestern Abend habe ich nach dem Bier noch zwei Aguardiente und ein Glas Wein getrunken, und heute bin ich mit einem leichten Kater aufgewacht, obwohl ich auch ordentlich gegessen hatte, gegrilltes Schweinefilet, das in diesem Hotel immer schön saftig ist. Kater, aber keine Katerstimmung. Es war mir nicht gelungen, Ángela zu überreden, ins Schwimmbecken zu

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