Das Steinbett
müde war, fiel es ihr schwer, sich zu entspannen. »Ich gehe noch etwas spazieren«, sagte sie zu Haver.
Sie trennten sich. Haver ging zum Hotel, und Lindell beschloß, sich die Kathedrale anzusehen. »Ein bißchen Tourist spielen werde ich ja wohl dürfen«, hatte sie zu Haver gesagt; aber es war eher das Bedürfnis, ein wenig allein zu sein, das sie zu der Kirche zog.
Vor dem Eingang saßen zwei Bettler. Der eine, ein älterer Mann mit ergrautem Haar, murmelte ein paar unverständliche Worte, als Lindell an ihm vorbeiging. Sie blieb stehen, wühlte in ihrer Handtasche und fand fünfhundert Peseten, ungefähr so viel, wie ein Bier in dem Restaurant kostete, das sie gerade verlassen hatten. Sie legte die Münze in die Hand des Mannes und erntete einen gurgelnden Laut als Dank.
In der Kathedrale wurde gerade eine Abendmesse vorbereitet. Etwa fünfzig Personen saßen in den Bankreihen. Ein Küster ging umher und zündete im Chor die Kerzen an. Er sah gelangweilt aus, bewegte sich träge. Das ärgerte sie, denn wie immer, wenn sie eine Kirche betrat, überkam sie ein Gefühl der Andacht. Sie war zwar nicht gläubig, fand aber, daß sakrale Räume zum stillen Nachdenken einluden.
Die Lichter in den Seitenschiffen wurden eines nach dem anderen gelöscht. Eine ältere Nonne trat vor und klopfte mit einem Finger prüfend gegen das Mikrofon. Lindell setzte sich. Die Nonne stimmte ein Lied an, ein Gloria, glaubte Lindell. »Dios«, hörte sie die Nonne mit klarer Stimme singen. Die Gemeinde erhob sich, und Lindell hatte das Gefühl, ihrem Beispiel folgen zu müssen.
Der Pfarrer und sein Kaplan, den sie zunächst für den Küster gehalten hatte, betraten den Kirchenraum, und der Gottesdienst begann.
Lindell beobachtete die Nonne, die nun wieder ein Lied anstimmte. Sie sah zufrieden aus, und ein beinahe amüsierter Zug umspielte ihre Lippen, so als nähme sie das Ganze nicht richtig ernst, aber Lindell ahnte, daß sie einfach glücklich darüber war, ihren festen Glauben mit dem Gesang verkünden zu dürfen.
Die Gemeinde ließ sich, gleichsam seufzend, zurück auf die Bänke fallen, auch Lindell setzte sich dankbar wieder hin. Die monotone Stimme des Pfarrers versetzte sie in einen Zustand melancholischer Ruhe.
24
Edvard zog das Boot mit einem Ruck an Land. Ein paar Fischschuppen, von den Heringen übriggeblieben, die er Ende des Frühjahrs aus dem Meer geholt hatte, klebten ihm an der Hand. Er zupfte sie mit nachdenklicher Miene ab.
Edvard wußte, daß Ann in Spanien war, aber das spielte keine Rolle. Sie könnte ebensogut in Uppsala sein, der Abstand wäre doch der gleiche gewesen. Zwei Wochen waren nun vergangen, seit sie sich gesehen hatten. Die erste Freude darüber, wieder mit ihr zusammen zu sein, war seinem altbekannten Wankelmut gewichen.
Viola war ungewöhnlich gereizt gewesen, als er mit dem Boot hinaus wollte. Edvard ahnte, daß sie sich wegen irgend etwas Sorgen machte. Manchmal glaubte sie Vorzeichen zu sehen, bildete sich Dinge ein. Sie hatte behauptet, daß es stürmisch werden könne und er vorsichtig sein müsse. Als er ihr erklärte, daß er nur ein paar hundert Meter hinausrudern wolle, hatte sie sich wieder etwas beruhigt.
Er nahm ihre Angst sonst durchaus nicht auf die leichte Schulter. Ihre etwas diffusen Vorhersagen von Wetterumschwüngen erfüllten sich nicht selten, aber heute hatte sie sich geirrt. Das Meer war spiegelblank, und Edvard blieb noch ein wenig am Ufer.
Ann fischte nach schlimmeren Biestern als er. Sie hatte kurz erzählt, warum sie nach Spanien mußte. War er neidisch auf sie, weil sie verreisen durfte? Oder war er einfach nur eifersüchtig? Er wußte, daß sie bei ihrer Arbeit viele Menschen traf. Sich selber sah er hingegen immer mehr als den isolierten Inselbewohner.
Was für ein Leben konnte er ihr bieten? Sollte er Gräsö verlassen und sich eine neue Existenz aufbauen? Dafür mußte er sicher sein, daß er lange Zeit an dem neuen Ort bleiben könnte, denn er war kein Nomade. Diese Erkenntnis war in den gut zwei Jahren auf der Insel langsam in ihm gereift. Er würde nicht mehr fliehen. Entweder er blieb auf der Insel und richtete sich auf ein Junggesellenleben in den Schären ein, oder aber er gründete mit Ann eine neue Familie und würde vielleicht ein Kind mit ihr haben.
Der Wind wehte etwas heftiger. Hatte Viola etwa doch recht gehabt? Manchmal kam abends Wind auf, der bis zum nächsten Morgen stetig an Stärke zunahm. Davor hatte Viola also Angst gehabt. Sie
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