Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
Bank und hatte den Kopf zum Fenster gewandt. Die weihnachtlich erhellte Stadt glitt hinter den Scheiben vorüber.
Warum setzt sich Julius Pawalet in diese Straßenbahn, fragte sich der Künstler voller Unruhe. Der Verdacht, dass der kleine Kunstwächter ihm nachspionierte, schnitt ihm in die Eingeweide. Denn die Endhaltestelle dieser elektrischen Straßenbahn war eine weitere Station in Lanz’ Leben, die man eigentlich unmöglich zurückverfolgen konnte. Nicht einmal die Polizei konnte das. Aber vielleicht besuchte Pawalet nur einen kranken Freund.
Doch je näher die Elektrische der Endhaltestelle kam, desto größer wurde seine Gewissheit, dass der andere genau dort aussteigen würde.
In der Alser Straße, vor dem Areal des Allgemeinen Krankenhauses.
Er verfolgt mich, dachte er fassungslos. Er verfolgt meine Spur.
Tatsächlich stieg Julius Pawalet vor dem Komplex des Krankenhauses aus und marschierte auf den Haupteingang zu. Saluti et solatio aegrorum stand gemeißelt im steinernen Giebel über dem Torbogen, eine Widmung aus der Zeit Josephs II., unter dem die Anlage des Krankenhauses entstanden war. Zum Heil und zum Trost der Kranken , dachte Lanz angewidert. Fast hätte er in den Schnee gespuckt, denn die Erinnerung an sein Leben hinter diesen Mauern huschte vorüber wie der Schatten einer giftigen Wolke.
Vor ihm öffnete Julius Pawalet die schwere Tür zur Eingangshalle.
Das ist der falsche Eingang, Bürschchen, dachte Lanz hämisch. Einen Moment lang wollte er glauben, dass Pawalet tatsächlich nur jemanden besuchte.
Er trat nach Pawalet in die prunkvolle Eingangshalle, wo etliche Schwestern hinter einem Tresen über irgendwelchen Unterlagen saßen. Pawalet wandte sich an eine von ihnen und schien ihr eine Frage zu stellen. Sie blätterte in einem Buch und suchte wohl einen Namen, dann schüttelte sie den Kopf. Pawalet beugte sich tiefer zu der Schwester hinunter und schien eindringlich auf sie einzureden. Die Schwester erhob sich und begann zu gestikulieren.
Lanz trat näher heran und hörte, wie sie ihm eine Wegbeschreibung gab. Und dann hatte der Künstler endlich Gewissheit.
Ein rasender Schmerz schoss durch die Sinne des Künstlers. Einen Moment lang stand er reglos da, während Julius Pawalet an ihm vorbeiging. Die Eingangstür schwang knarrend auf, und er sah das leuchtend goldene Viereck des Winterhimmels über dem Hof. Zehn Jahre lang hatte er sich gewünscht, diesen Anblick wiederzuerleben. Doch die, die sich das Heil und den Trost der Kranken auf die Fahne schrieben, hatten ihm sein Leben gestohlen wie gemeine, gedankenlose Diebe. Sie hatten ihn getötet, seine Existenz aus dieser Stadt getilgt. Nun würde sein Schatten sich rächen. Doch Pawalet … wie war der ihm bloß auf die Schliche gekommen?
„Kann ich Ihnen helfen, mein Herr?“, fragte eine lautlos hinzugetretene Schwester. Der Künstler riss sich aus seiner Erstarrung, wandte sich ab, ohne etwas zu sagen, und nahm die Verfolgung wieder auf.
Die Landesirrenanstalt am Brünnlfeld lag gleich auf der anderen Seite des Krankenhauses auf einer kleinen Anhöhe. Er hatte nicht vorgehabt, jemals wieder an diesen Ort zurückzukehren. Dieser Ort war ein dunkler, leerer Fleck in seinem Bewusstsein, an den er nicht mehr rühren wollte.
Und nun stand er doch wieder vor diesem endgültigen, drohenden Tor.
Es fiel gerade wieder zu; Julius Pawalet war schon hindurchgetreten.
Alois Lanz sog tief die Winterluft in seine Lungen und hielt den Atem an. Er ließ die Kälte in sich brennen und stechen, während er mit geschlossenen Augen die Klinke herunterdrückte. Plötzlich fühlte er sich wieder wie das Kind, dem der Vater gesagt hatte, da sei ein schreckliches Ungeheuer. Ein Ungeheuer, das in der leeren Wohnung lauerte, wenn die Eltern nicht da waren. Das ihn bestrafen würde, wenn er sein Zimmer verließ.
Einmal hatte er es gewagt, sich aus der Küche ein Glas Milch zu holen. Er hatte die Küche betreten wie diesen Ort am Brünnlfeld, an dem ein Teil seines Lebens begraben lag: mit angehaltenem Atem, schwitzend, blinzelnd und voller Angst. Natürlich hatte ihn kein Ungeheuer angefallen und dafür bestraft, dass er nicht in seinem Zimmer geblieben war. Doch diese Tatsache hatte nicht genügt, um ihm die Angst zu nehmen. Und hier, in der Anstalt am Brünnlfeld, hatte er es besiegt. Hier hatte er das Ungeheuer zerstört und sich einen Teil von dessen Kraft zunutze gemacht. Doch diese Kraft, das wusste er, wirkte nur draußen. Hier drin war er
Weitere Kostenlose Bücher