Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
Ungeheuer plötzlich zu Boden, und eine Stimme drang vom Eingang her zu ihm.
„Ach, Herr Rohrbach! Ein Segen, dass Sie kommen! Könnten Sie mir mit dem Weihnachtsbaum helfen? Ich bekomme dieses Ungetüm einfach nicht ins Treppenhaus!“
IX
In einem Krankenhaus ist der 24. Dezember ein Tag wie jeder andere. So zumindest hatte Johanna Kowak es all die Jahre empfunden. Ein Tag, vor dem Leid und Tod nicht haltmachten, sondern wie eh und je die Mauern des Allgemeinen Krankenhauses mit Schreien und Weinen erfüllten.
In diesem Jahr war es besonders schlimm. Eine Bettlerfamilie hatte ihr Kind vorbeigebracht, dessen Unterschenkel erfroren waren. Johanna sah immer noch den leeren Blick der Mutter vor sich, als man ihr gesagt hatte, dass nur eine Amputation in Frage kam. Die Leichenhallen waren in diesen Tagen überfüllt von den grauen Leibern erfrorener Säufer und Obdachloser, die Stationen waren voll belegt mit alten Menschen, die sich etwas gebrochen hatten, weil sie auf den spiegelglatten Straßen gestürzt waren.
Mechanisch verrichtete Johanna ihre Arbeit.
„Sie werden doch keine Grippe bekommen?“, fragte Doktor Wilhelm vorsichtig. Seit Johannas Zurückweisung war er wortkarg und verschlossen, worüber die Krankenschwester sehr froh war. Doch an diesem Tag erfüllte die Gegenwart des Arztes sie nicht mit Abscheu. Im Gegenteil. Sie schenkte ihm ein freundliches Lächeln und sagte: „Nein, mir geht es gut. Es liegt an diesem Tag. Es ist schlimmer als an den anderen Tagen im Jahr, finden Sie nicht? Es ist schlimmer, weil alle Welt behauptet, es sei ein Anlass zum Feiern. Und wenn man dann sieht, dass er sich nicht unterscheidet, ist er plötzlich der schrecklichste Tag des Jahres, obwohl sich gar nichts geändert hat.“
Doktor Wilhelm sah Johanna aufmerksam an, und sie schämte sich für ihre sentimentalen Worte. „Ach, vergessen Sie, was ich gesagt habe. Vielleicht bin ich einfach ein bisschen überarbeitet.“
„Nein, nein“, sagte Doktor Wilhelm, „ich finde diesen Gedanken sehr interessant. Hier drin sieht man die Welt ganz anders. Aber ich frage mich, was Sie so traurig macht, Fräulein Kowak. Wären Sie lieber bei Ihrer Familie?“
Johanna trat einen Schritt zurück und setzte ein spöttisches Lächeln auf.
„Nein, Herr Doktor. Es ist schon in Ordnung so.“
Doktor Wilhelm seufzte und sah sie fragend an. „Wissen Sie, was aus diesem jungen Kerl geworden ist, den wir neulich hier hatten? Der mit der Gehirnerschütterung.“
Johanna hob den Kopf. „Warum interessiert Sie das?“, fragte sie alarmiert.
„Na, Sie haben ihn doch anschließend gepflegt, oder?“
„Ja, das habe ich. Ich frage mich jedoch, warum Sie ausgerechnet dieser eine Mann interessiert.“
„Ach, er hat mir irgendwie besonders leidgetan“, sagte Dr. Wilhelm.
„Mir nicht“, erwiderte sie.
„Wann werden Sie mich erlösen, Johanna?“, fragte der Arzt und stellte sich vor sie hin. „Sehen Sie, ich frage Sie hier nach vollkommen unwichtigen Patienten, nur um einen Vorwand zu haben, mit Ihnen zu sprechen. Verzeihen Sie mir.“
„Oh!“, rief Johanna aus, und in ihrem Inneren brach eine kleine, mühsam aufrechterhaltene Mauer zusammen. „Dieser Patient war nicht unwichtig, Herr Doktor Wilhelm. Weder für Sie noch für mich!“ Ihre wütende Stimme ließ den Arzt aufhorchen.
„Er war genau genommen ein Glücksfall!“
Ihr Herz hämmerte mit einem Mal aufgebracht gegen ihre Brust. Johanna hatte große Mühe, ihre unterdrückte Wut nicht in einem hysterischen Schrei zu entladen.
Doktor Wilhelm fragte irritiert: „Wie darf ich das verstehen?“
„Dieser Mann“, sagte Johanna leise, „ist der einzige Grund, warum ich mir gerade überlege, Sie zu erlösen, Doktor Wilhelm.“ Ihre Stimme war ganz brüchig vor lauter Zynismus. „Er war der eine, für den ich mich aufgehoben habe. “ Eine Träne lief ihr über die Wange, die keine Selbstbeherrschung der Welt hätte zurückhalten können.
„Ich bin 24, Herr Doktor, und ich habe gedacht, dass dieser Mann mit der Gehirnerschütterung der Grund ist, warum ich bis dahin noch nie geküsst oder berührt worden bin!“
„Johanna …“, Doktor Wilhelm hob hilflos die Hände und sah sich rasch um, als hätte er Angst, dass jemand ihre Worte hörte.
„Nein, lassen Sie mich ausreden! Sie wollten mich doch kennenlernen. Sie wollten mir doch näherkommen. Also, bitte schön! Hier bin ich! Eine frustrierte Samariterin mit einer versiegten Quelle zwischen den
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