Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
Und sie will dich nicht sehen, und jetzt verstehe ich auch, warum!“
Plötzlich meinte Julius in Johannas Gesicht einen Funken Furcht aufflackern zu sehen. Vielleicht dachte sie, dass er sie vor Wut und Ärger anschreien oder schlagen würde. Ihre Stirn war in einem ängstlichen Ausdruck gerunzelt, und sie trat einen Schritt zurück.
„Stimmt das, Johanna?“, fragte Julius. „Stimmt es, was du da sagst?“
Sie starrte ihn nur an und zuckte die Schultern. Dann stieß sie hervor: „Ja, es stimmt. Aber ich hätte es dir nicht sagen sollen. Ich wollte dir weh tun; du scheinst das ja zu genießen. Sonst würdest du nicht mit dieser schrecklichen Frau verkehren, nicht wahr?“
Sie schwieg kurz, dann sagte sie leise: „Es tut mir leid. Vergiss den ganzen Unsinn.“
Dann ließ sie in einer enttäuschten Geste den kleinen Blumenstrauß in den Schnee fallen, drehte sich um und verschwand zwischen den Spaziergängern.
Was hatte Inspektor Lischka gesagt? Maria Habermann sei die Frau aus der Heiratsurkunde seines Vaters?
Natürlich. Der Name Mitzi war nichts anderes als die Koseform von Maria.
Sie lebte also und lag im Allgemeinen Krankenhaus, und Johanna hatte es die ganze Zeit gewusst und ihm nichts gesagt.
Nein, es war ganz gut, dass das Mädchen mit dem wilden Mund in der Allee verschwunden war. Am Ende konnte er Luise von Schattenbach sogar dankbar sein, dass sie den Stein der Erkenntnis ins Rollen gebracht hatte.
***
Seit Karl Lueger das Wiener Bürgermeisteramt innehatte, machte er sich bei seinen Wählern hauptsächlich dadurch beliebt, dass er dem Groll gegen die Wiener Juden eine laute und aggressive Stimme verlieh. Wohlhabende Juden mussten in diesen Zeiten damit rechnen, dass die Polizeiagenten ihnen eher mit Schadenfreude begegneten, als sie zu unterstützen, und dass sie die Ermittlungen verschleppten oder aus nichtigen Gründen einstellten.
Doch viel schlimmer dran waren die kleinen Leute in der Leopoldstadt. Die Juden, die sich mit einem kleinen Handwerksbetrieb, einer Pfandleihe oder einem Silberwarengeschäft über Wasser halten mussten. Sie hatten ihr karges Auskommen, aber wenn einmal des Nachts ein Schaufenster eingeschlagen und der Laden ausgeraubt wurde, war das meistens das Ende der ärmlichen Existenz.
Alois Lanz hatte es mit eigenen Augen gesehen. Die Polizisten rührten keinen Finger, um bestohlenen Juden zu helfen. Nein, sie freuten sich vielmehr darüber, wenn die Feinde des Wiener Bürgertums zu Schaden kamen.
Und genau aus diesem Grund hatte sich Alois Lanz den Juwelier Efrussi ausgesucht. Der alte Jude würde niemals auf die Idee kommen, ihn anzuzeigen. Er war viel zu sehr auf das Geld angewiesen, das Lanz ihm zahlte. Er betrachtete Efraim Efrussi als Verbündeten, der mit seiner Kunst etwas zu Lanz’ Geniestreichen beitrug, ohne natürlich zu wissen, was er da tat. Alois Lanz bezweifelte, dass die grausigen Zeitungsmeldungen über seine Taten bis hinter den verstaubten Tresen des Juweliers drangen. Solche Leute haben doch ganz andere Sorgen, sagte er sich und zog den Hut tief in die Stirn, als er am Praterstern aus der Elektrischen stieg und mit eiligen Schritten in die Kleine Mohrengasse lief. Unter dem Arm trug er eine dünne lederne Mappe. Man würde denken, dass er ein kleiner Beamter auf dem Nachhauseweg war.
Die Kleine Mohrengasse lag um diese Zeit schon im Abendschatten. Es war niemand zu sehen. Morgen war Weihnachten, aber Alois Lanz war sich nicht sicher, ob das Fest in diesem Stadtteil aufwendig gefeiert wurde. Der Laden von Efrussi lag wie ein schief gewachsener, verfaulender Zahn im Gebiss der Häuserreihen. Geduckt und schäbig zwischen einer Wäscherei und einem Gebäude, an dessen Eingangstür eine rote Laterne ihr Licht in die Dämmerung sandte.
Über dem Laden hing ein rostiges Schild, auf dem der Name E. Efrussi stand. Und über dem Schaufenster in von Wind und Wetter verwitterten Buchstaben: „Gold, Silber, Edelsteine – An- und Verkauf von Edelmetallen aller Art“.
Der Künstler warf einen Blick in das Schaufenster. Mehrere mit Samt ausgelegte Kästen standen dort unordentlich übereinander mit Schlitzen, in die der Juwelier Ringe, Broschen, Armbänder und Taschenuhren gesteckt hatte. Der Schmuck war stumpf und nicht poliert, und das Schaufenster sah eher aus wie die Auslage eines Schraubenhändlers. Doch plötzlich zog ein Gegenstand zwischen den Kästen seinen Blick auf sich. Es war ein Armreif aus schlichtem Messing, der in der Form
Weitere Kostenlose Bücher