Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
Schenkeln!“
„Johanna! Bitte sprechen Sie leiser!“
„Ach, das wollen Sie wohl nicht hören, was?“, zischte sie aufgebracht. „Sie finden wohl doch eher Gefallen an den verschämten, braven, reinen Mädchen mit den weißen Hauben.“
Der Arzt ergriff ihre Hände und hielt sie fest, als wollte er sie daran hindern, gleich die Medizinflaschen und Stahlinstrumente umherzuwerfen.
„Johanna, was haben Sie denn?“, fragte er.
„Das, Herr Doktor Wilhelm, nennt man Liebeskummer. Und dagegen hilft weder Fasten noch Beten, das weiß ich. Dagegen hilft nur ein williger, bedenkenloser Mann, der einer Frau einen Ausschnitt der wahren Welt zeigt, um Sie danach wieder fallenzulassen. Nun gut, ich bin bereit. Ich weiß, was mich erwartet. Haben Sie keine Scheu, Herr Doktor. Weihen Sie mich ein!“
Der Arzt war blass geworden. Fassungslos starrte er die junge Krankenschwester an.
Johanna straffte sich. „Ich werde den Abend bei meinen alten Eltern verbringen und den ersten Feiertag ebenso. Übermorgen bin ich wieder zur Stelle. Und keine Sorge – ich brauche keine teuren Geschenke. Erlösen Sie mich einfach nur.“
Sie wischte sich mit einer wütenden Geste die Tränen weg und ging davon.
Sie öffnete die Tür zu einer kleinen Abstellkammer und flüchtete sich in die Dunkelheit zwischen Putzzeug und Stapeln frischer Badetücher. Krampfhaft versuchte sie, sich zu beruhigen. Doch es gelang ihr nicht. In ihrem Innern nagte noch immer die Erinnerung an die Begegnung mit Julius und dieser unsäglichen Frau auf dem Pferd. Es wäre alles nicht so schlimm gewesen, wenn sie einfach nur Wut und Enttäuschung empfunden hätte. Aber da war noch ein anderes Gefühl, das sie zutiefst verunsicherte.
Lust. Eine nagende, unterschwellige Lust, die sie begleitete, seit sie sich von Julius getrennt hatte. Diese Lust war falsch, denn sie galt nicht Julius, sondern dieser Frau. Luise von Schattenbach. Bei dem Gedanken an ihren hochmütigen Blick und an den unnachgiebigen Druck der Gerte an ihrer Schläfe durchzuckte sie immer wieder eine heiße Welle verzehrender Schwäche. Sie verscheuchte den Gedanken, doch in manchen Momenten fiel dieses Gefühl sie wieder an wie ein wildes Tier aus den dunkelsten Ecken ihres Bewusstseins. Dann pulsierte etwas in ihrem Bauch, und Johanna wünschte, sie würde wieder auf der verschneiten Allee stehen und unter den Blicken der Frau so klein werden wie eine Maus. Ängstlich und verwirrt blickte sie in den Abgrund, der sich in ihr aufgetan hatte und von dem sie nichts geahnt hatte. Sie ertappte sich bei seltsamen Sehnsüchten, die ihr die Schamesröte ins Gesicht trieben. Diese Gedanken weiterzudenken, der köstlichen Verwirrung nachzuspüren – das kam ihr vor, als würde sie in einen tiefen Schacht stürzen. Sie nahm ihre ganze Kraft zusammen, um sie von sich fortzuschieben.
Eine halbe Stunde später hatte sie sich so weit beruhigt, dass sie Maria Habermann frohe Weihnachten wünschen und sich für die Feiertage verabschieden konnte.
Johanna hatte nicht vor, der alten Frau zu erzählen, dass sie ihrem Sohn in einem Anfall von Gedankenlosigkeit verraten hatte, dass seine Mutter noch lebte. Vor ihr tat sich plötzlich ein nebeliger Abgrund auf, und sie hatte das Gefühl, als wäre sie am Ende ihres Lebens angekommen. Was natürlich vollkommener Unsinn war, das wusste sie. Johanna hatte in Büchern und in den Zeitschriften für junge Damen schon oft von dieser ganz besonderen Marter gelesen und sie immer als überspanntes Hirngespinst abgetan. Nun fühlte sie es selbst – den unbändigen Hass gegen den Verursacher dieser Gefühle. Sie öffnete die Tür zu Maria Habermanns Zimmer und erschrak.
Eine Krankenschwester zog gerade das Bett ab. Das Fenster war weit geöffnet, und im ganzen Raum war keine Spur mehr von seiner Bewohnerin zu finden.
„Wo ist sie hin?“, rief Johanna. Ihr kam ein trauriger Verdacht.
„Drüben“, antwortete die Schwester und deutete auf das offene Fenster.
„Wo drüben?“, drängte Johanna und eilte auf ihre Kollegin zu.
„Sie ist vorgestern Nacht verlegt worden“, sagte sie. „Ins Brünnlfeld.“
Johanna konnte es nicht glauben. Warum sollte man Mitzi in die Irrenanstalt verlegt haben? Als sie das letzte Mal nach der alten Frau gesehen hatte, war sie noch wohlauf gewesen. „Warum?“, fragte sie fassungslos.
Die Schwester bezog das Kopfkissen und schüttelte es aus. „Nervenfieber. Sie hat stundenlang herumgebrüllt und unzusammenhängendes Zeug geschrien.
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