Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
gelähmt wie ein Falter, dem die Farbschuppen von den Flügeln wehten.
Dann drang ihm der Geruch des Hauses in die Nase, wie ein Giftpfeil aus dem Urwald seiner Erinnerung. Die Luft wich aus seinen Lungen wie aus einem geplatzten Ballon. Ein jäher Impuls trieb ihn fast rückwärts wieder zur Tür hinaus. Dieser Geruch … Eine Mischung aus Putzmitteln und gummierten Schuhsohlen. Dazu der Geruch von Kraut und Bohnen – eine Mahlzeit, die heute anscheinend immer noch gekocht wurde. Die Übelkeit raubte Lanz die Kraft in den Beinen, und fast wäre er getaumelt. Er konzentrierte sich auf Pawalet und sah, dass der an den Empfangstresen der Landesirrenanstalt getreten war. Wollte er etwas über jemanden herausfinden? War er dieser Jemand, fragte sich der Künstler.
Wieder schaute eine Schwester in ein Buch, doch diesmal folgte ein strenges Kopfschütteln. Lanz trat näher. In der Halle war niemand außer dieser Frau, ihm und Pawalet. Der junge Museumswärter schien aufgebracht und gestikulierte ungeduldig vor der versteinerten Schwester in ihrer weißen Tracht. Pawalets Worte hallten verzerrt von den sauberen Steinwänden wider, so dass Lanz nichts verstehen konnte. Schließlich stand die Schwester auf. Drohend wie ein Albatros vor einem vorlauten Pinguinjungen ragte sie über Pawalet auf und sagte etwas, das Lanz den Hals zuschnürte.
„Doktor Brucker hat frühestens am 27. Dezember für Sie Zeit, mein Herr. Ich werde ihm gern sagen, dass Sie ihn sprechen möchten. Er ist zuständig für diesen Fall. Mehr kann ich nicht für Sie tun. Kommen Sie in drei Tagen wieder.“
Ihre Stimme klang mächtig wie eine Kirchenorgel. Pawalet zog die Schultern ein, murmelte so etwas wie Frohe Weihnachten und wandte sich zum Gehen. Lanz wartete, bis er die Klinik verlassen hatte.
Dann ging er Richtung Empfangstresen, tat mit einem Mal so, als hätte er es sich anders überlegt, machte auf halbem Wege kehrt und verschwand ebenfalls.
Draußen lehnte er sich an die Mauer der Irrenanstalt und wartete, bis sein Atem sich beruhigt hatte. Es begann wieder zu schneien. Normalerweise hatte man von diesem Platz einen weiten Blick über die Stadt, doch der Winter hatte eine Nebelglocke über den Ort gelegt. Im Wirbel der Schneeflocken sah er die Gestalt von Pawalet den Hügel hinunter auf die Straßenbahnstation zugehen. Er folgte ihm nicht. Er hatte erfahren, was er wissen musste. Julius Pawalet legte nach und nach die Spuren zu seinem Versteck frei. Er hatte nicht nur herausgefunden, dass er die Bilder seiner ersten beiden Opfer in deren Wohnung versteckt hatte. Anscheinend hatte das Schicksal diesen Kerl mit einem besonderen Instinkt ausgestattet. Dann war er hierhergekommen, in die Keimzelle des Verderbens, und hatte sich nach ihm erkundigt. Denn was konnte es anderes bedeuten, wenn er nach Doktor Brucker verlangte?
Beruhige dich, sagte er sich. Du bist gestorben. Vor dem Angesicht der Welt bist du tot, vergiss das nicht. Sie werden dich nicht finden.
Aber Alois Lanz wusste nun auch, dass er verhindern musste, dass Julius Pawalet noch länger hinter ihm herschnüffelte. Er würde seine Pläne bezüglich des kleinen Saaldieners in die Tat umsetzen müssen.
Er wartete, bis die Elektrische abgefahren war. Dann machte er sich zu Fuß auf den Weg zu seiner Wohnung. Der Schnee hatte alle Menschen von den Straßen vertrieben. Alois Lanz spürte, wie die Flocken ihm in den Kragen fielen, doch er kümmerte sich nicht darum. Plötzlich konnte er es kaum erwarten, die Wohnungstür hinter sich zu schließen, um über die nächsten Schritte nachzudenken. Er war enttäuscht, dass er seinen Plan mit der Ruhenden Venus nicht umsetzen konnte. Doch der neue Plan war weit besser. War es nicht viel reizvoller, statt irgendwelcher namenloser Objekte diesen kleinen hartnäckigen Pawalet zum Gegenstand seines nächsten Kunstwerks zu machen?
Die Pezzlgasse war eine ruhige Wohngegend. Er betrat das Geviert des Innenhofes und zog die Schlüssel aus der Manteltasche.
Da sah er das Ungeheuer.
Riesenhaft und mit tausend Stacheln bewehrt, drängte es sich in den hell erleuchteten Hauseingang und machte dabei grausam schabende, kratzende Geräusche. Es stöhnte und ächzte und stieß furchtbare Flüche aus.
Lanz erstarrte. Genau so hatte er sich das Wesen vorgestellt, damals, als Kind.
Jetzt kommt es und holt mich, dachte er voller Panik. Und Julius Pawalet war dessen hinterhältiger Vorbote. Sein Schlüsselbund fiel lautlos in den Schnee.
Da stürzte das
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