Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
einladenden Säulenportal. Von außen deutete nichts darauf hin, dass man sich auf ein Irrenhaus zubewegte. Doch einige Fenster waren vergittert, wie Julius sah.
In der Halle meldeten sie sich bei einer der streng auftretenden Schwestern an und trennten sich kurz darauf. Es war noch früh am Vormittag, und als Julius endlich atemlos die Treppe zum zweiten Stock hinaufgestiegen war, kroch ihm der Duft von frischen Semmeln und Kaffee in die Nase. Er dachte daran, dass ihn dieser Duft noch vor wenigen Wochen wahnsinnig gemacht hätte, weil solche Dinge für ihn unerreichbar waren. Aber an diesem Morgen hatte es bei Lischka ebenfalls frische Kaisersemmeln mit Honig gegeben, und der Inspektor hatte zur Feier der Wiederaufnahme ihrer Ermittlungen heiße Schokolade gekocht und zwei Gläschen mit einem teuren Rum aus Übersee auf den Tisch gestellt. Julius hoffte, dass der Schnaps ihm helfen würde, die Nerven zu behalten.
Er hatte herausgefunden, dass im oberen Stockwerk der Anstalt die etwas besser gestellten Patienten in Einzelzimmern untergebracht waren, mit allem Komfort, den diese Menschen von ihrem Zuhause gewohnt waren. Er fragte sich, was seine Mutter gemacht hatte, dass sie sich ein solches Zimmer leisten konnte. Er wurde immer nervöser.
Als er vor dem Zimmer seiner Mutter angekommen war, öffnete sich die Tür mit der Nummer, die ihm die Empfangsschwester im Erdgeschoss genannt hatte, und Johanna trat heraus. Eine Welle der Scham schwappte über Julius hinweg. Johanna trug den grauen Wintermantel, in dem er sie zum ersten Mal auf dem Friedhof gesehen hatte. Julius erschrak, als er sah, wie sich Johanna heimlich eine Träne wegwischte. Im nächsten Moment hob sie den Kopf und sah ihn. Julius wäre am liebsten im Erdboden versunken. Doch plötzlich begriff er, dass Johanna der einzige Mensch war, der ihm jetzt helfen konnte. Offensichtlich wusste sie, was mit Maria Habermann los war. Vielleicht konnte sie es ihm ein klein wenig leichter machen. Voller Hoffnung sah er sie an. Johanna lächelte ihm zu. Es war ein kleines, wehmütiges Lächeln, aber es galt eindeutig ihm. Julius trat auf sie zu und versuchte ebenfalls, den Mund zu einem Lächeln zu verziehen. Sie deutete mit dem Kopf zu der Tür und sagte: „Du hast dir einen guten Tag ausgesucht. Es geht ihr nicht gar zu schlecht.“
„Warum ist sie überhaupt hier?“, fragte Julius, der froh war, dass Johanna so unverkrampft mit ihm redete.
„Der Arzt meint, dass sie sich in einer schweren Phase der Démence befindet. Weißt du, sie ist schon, seit ich sie kenne, vergesslich und verwirrt. Manchmal hat sie mich nicht erkannt und behauptet, ich wäre irgendeine berühmte Schauspielerin. Manchmal hat sie laut geschimpft und geschrien, dass die Ärzte sie umbringen wollen. Wir haben das auf ihr Alter geschoben. Aber in den letzten Tagen gab es wohl einen Schub in eine wahnhafte Richtung. Sie hat die Krankenwärterinnen geschlagen und die Ärzte bespuckt und hat versucht, im Nachthemd aus dem Fenster zu steigen. Du darfst nicht erschrecken, wenn du sie siehst, Julius.“
„Ich habe sie doch nie gesehen, wieso sollte ich da erschrecken?“
Dann schwiegen sie. Julius beschloss, etwas Freundliches zu sagen.
„Danke, dass du mich aufgeklärt hast.“
Johannas Augen weiteten sich. „Hör mir zu, Julius. Ich … ich habe dir das über deine Mutter nicht deswegen gesagt, um dich zu verletzen. Es war nicht richtig, es dir einfach so ins Gesicht zu schleudern. Vielleicht habe ich irgendwie einen Weg gesucht, es loszuwerden. Weißt du, Maria hat mir verboten, dir etwas zu verraten, aber das ist jetzt wohl nicht mehr wichtig. Wenn du willst, komm’ ich mit hinein.“
Das war er, der Strohhalm, nach dem Julius gesucht hatte. Er tastete nach Johannas Hand. „Darf ich dir irgendwann erklären, was es mit dieser Situation im Prater auf sich hatte?“
Johanna lächelte zaghaft. „Ach, weißt du, das ist mir egal. Ich habe mich ja aufgeführt wie eine eifersüchtige alte Ehefrau. Du bist ein freier Mensch und kannst tun, was du willst. Komm jetzt, sonst schläft sie vielleicht wieder ein.“
Julius war so erstaunt über Johannas Gelassenheit, dass er sich wie ein kleiner Junge zur Tür führen ließ.
„Warte noch“, sagte er und hielt sie zurück. „Inspektor Lischka sagt, dass meine Mutter schon lange nicht mehr in Wien gemeldet war. Weißt du, wo sie in dieser Zeit war?“
„Sie ist nach der Trennung von deinem Vater nach Deutschland gegangen und hatte dort
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