Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
Nervosität war verflogen. Maria Habermann erschien ihm in diesem Moment nicht mehr wie seine totgeglaubte Mutter, und alle befürchtete Sentimentalität war weg. Sie war für ihn nur noch ein unbestimmter Teil aus einer dunklen Vergangenheit, die er unbedingt ergründen wollte.
„Maria, es tut mir so leid, dass mein damaliges Leben uns dahin gebracht hat. Aber ich war jung“, sagte Julius so eindringlich wie möglich. „Ich wusste damals nicht, dass die Männer … mit denen ich gearbeitet habe, nicht gut für mich waren.“
Maria Habermann starrte ihn an, und zuerst glaubte Julius, dass sie erkannte, dass er unmöglich sein Vater sein konnte.
„Bitte, Julius“, flüsterte Johanna. „Dieses Spiel ist nicht gut für sie.“
Doch Julius redete weiter. „Ich wusste damals nicht, dass die Sache mit dem Museum so enden würde.“
„Ja, weil du geldgierig bist und dumm!“, kam die Antwort von Maria. „Du hättest dich nie mit dem Schattenbach einlassen dürfen. Kluge Menschen wussten damals schon, dass er ein Verbrecher ist.“
Julius verspürte einen unerträglichen Druck auf der Brust. Das war eine richtige Spur! „Ich weiß, dass es Unrecht war, was wir getan haben“, fuhr er fort. „Ich hätte dich gern davor bewahrt, aber du hast alles mitbekommen, nicht wahr?“
„Das war nicht zu verheimlichen. Es hat dich viel zu sehr belastet, Joseph!“ Jetzt fing Maria Habermann an zu weinen.
Johanna drückte ihre Hand ganz fest und redete beruhigend auf sie ein.
Maria schluchzte leise auf. „Wir hätten so ein schönes Leben haben können, Joseph. Du und ich … Und dann kam dieser Maler und hat alles kaputt gemacht.“
Julius’ Körper spannte sich an. „Was für ein Maler?“, fragte er beunruhigt.
„Na, der Grimminger, oder wie der Teufel hieß!“, fuhr die alte Dame auf. Sie zerknüllte die Bettdecke zwischen den knochigen Fingern. „Du musstest ja unbedingt mit ihm zusammenarbeiten. Du wärst so gern selbst ein Künstler gewesen! Du hast nie akzeptiert, dass es andere gibt, die besser und begabter sind als du. Und dann kommt dieser widerwärtige Mensch und nimmt dich mir weg!“
„Julius“, raunte Johanna, „das ist nicht gut für sie. Sie regt sich zu sehr auf.“
„Warte noch ein bisschen, bitte!“, flehte er. Die verwirrte Tirade gegen ihren toten Ehemann kam Julius vor wie eine kostbare Quelle aus Antworten, die womöglich bald versiegen würde.
Doch in diesem Moment hellte sich der Gesichtsausdruck der alten Frau auf, und sie fasste Johannas Arm. „Meine Liebe“, sagte sie und sah sie mit großen Augen an, „wer ist der Mann da an meinem Bett?“
Julius wollte etwas sagen, doch Johanna kam ihm zuvor. „Das ist Julius, Maria. Ihr Sohn. Wissen Sie noch? Sie haben ihn verlassen, als er noch ganz klein war, weil es Ihnen schlechtging, nicht wahr?“
„Ah, Julius …“, sagte sie mit tonloser Stimme. Sie sah ihren Besucher jedoch nicht an, sondern schien den Blick nach innen zu richten, als suchte sie dort nach den richtigen Worten.
Julius schwieg. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn sie ihn für Joseph gehalten hätte.
Maria Habermann holte tief Luft und sagte: „Sogar dieses Kind hat er mir weggenommen. Ich hätte doch nie … mit einem solchen Ungeheuer ein kleines Kind aufziehen können … kein Geld, der Schnaps … immer diese Unsicherheit … und dann die Polizei. Ständig kamen sie zu mir … Dieser elende Säufer … Herumtreiber …“
Als sie schließlich anfing, sich über maßlose Fleischeslust ihres toten Ehemannes auszulassen, gebot Johanna ihr Einhalt.
„Maria, Sie regen sich zu sehr auf. Wollen Sie Julius denn nicht guten Tag sagen? Er ist hergekommen, um Sie zu sehen. Freuen Sie sich denn gar nicht?“
Maria Habermanns Gesicht fuhr herum, und wieder starrte sie Julius mit ihren bleichen Augen an.
Ihm schürte sich die Kehle zu. Diese Frau – seine Mutter – ängstigte ihn wie ein Gespenst, das plötzlich aus einer unbeleuchteten Ecke seines Lebens aufgetaucht war und sich ihm in den Weg stellte. Er wusste nicht, was er sagen sollte, um noch mehr zu erfahren. Schließlich machte er einen neuen Versuch: „Maria, ich wollte dir nichts Schlimmes zumuten, aber …“
Doch sie ließ ihn nicht ausreden. „Du!“, schrie sie, und Julius wich zurück. „Du verlogener Mistkerl! Du wolltest bei diesen Verbrechern mitspielen und hast dafür das Glück deiner Familie zerstört!“
Johanna beugte sich vor und drückte sie vorsichtig in die Kissen zurück.
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