Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
wieder in meinem Leben ein Gemälde kopieren muss. Ich will nicht für meine Dienste in den letzten 25 Jahren bezahlt werden, sondern für die Gefahr, in die Sie mich dadurch gebracht haben. Ich werde aus Wien verschwinden, keine Sorge. Und niemand wird je erfahren, dass wir beide etwas miteinander zu tun hatten. Wenn man auf eine Zusammenarbeit zwischen Ihnen und mir schließen sollte …“ Der Kopist zog bedauernd die Schultern hoch. „Nun, ich rechne schon damit. Aber ich werde mich irgendwohin absetzen, wo man mich nicht findet. Ich habe allerdings den Verdacht, dass Sie mich mit ins Verderben reißen werden, wenn der ängstliche Ausdruck in Ihren Augen berechtigt sein sollte.“
Der Hofrat schnappte nach Luft. Er war nicht fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Am liebsten hätte er seiner Wut freien Lauf gelassen, Grimminger gepackt und gegen die Staffelei geschleudert. Doch die jahrelange Selbstbeherrschung verhinderte, dass die Lava seines Zorns hochkochte. Er zwang ein einvernehmliches Lächeln auf seine Lippen. Grimminger wollte also aufhören. Er meinte es ernst, das wusste der Hofrat. Eine undichte Stelle – das hatte der Hofrat gelernt – ließ sich auch nicht mit Geld abdichten.
„Nun, darüber sprechen wir am besten, wenn dieses Projekt zu einem glücklichen Ende gebracht wurde, nicht wahr?“
Er drehte sich halb zu Kinsky um, der schlafend auf der Bank lag. Ein glänzender Speichelfaden lief ihm über das stoppelige, aufgedunsene Kinn. „Ich werde jetzt erst einmal dafür sorgen, dass Sie nicht weiter gestört werden, und diesen unglücklichen Mann hier nach Hause bringen. Arbeiten Sie weiter, Grimminger, ich werde Ihnen diesmal ein höheres Honorar zahlen, für den zeitlichen Druck.“
Grimminger sah ihn ungerührt an. Sein Gesichtsausdruck erinnerte den Hofrat an die Fossilien von Urzeitfischen, die im gegenüberliegenden Naturhistorischen Museum ausgestellt waren. „Sie waren schon immer gut im Versprechenmachen, Hofrat“, stellte er fest. „Honig ums Maul schmieren, das können Sie. Das hat Ihnen wahrscheinlich Ihre reizende Gattin beigebracht. Aber bei mir verfängt das nicht. Betrachten Sie mich ab sofort als Damoklesschwert, das über Ihnen schwebt. In fünf Tagen will ich mein Geld haben und nichts mehr von Ihnen hören, sonst sorge ich dafür, dass die ganze Sache hier auffliegt.“
X
„Du machst ein Gesicht, als würdest du zu einer Beerdigung gehen“, sagte Rudolph Lischka und stieß Julius in die Seite.
Der stieß ein trockenes Lachen aus und antwortete: „Noch schlimmer – ich gehe zu einer Auferstehung. Warst du schon einmal bei einer Auferstehung? Wird es schlimm?“
Lischka grinste und sah aus dem Fenster in den ersten Tag nach Weihnachten. Die Straßenkehrer kamen nicht damit nach, die gewaltigen Schneemassen fortzuräumen. Die Menschen standen bis zu den Knien in den weißen Verwehungen, und der Inspektor sah frierende, abgerissene Obdachlose, die sich in diesen Tagen ein wenig Geld verdienen konnten, indem sie mithalfen, die Straßen freizuschaufeln.
„Meine Eltern sind schon eine ganze Weile tot, und ich habe beide im Sarg gesehen. Mit Auferstehungen habe ich keine Erfahrung“, sagte er.
Julius blickte wortlos aus dem Fenster und knetete seine klammen Hände.
„Nun, mach nicht so ein Gesicht, es wird schon nicht so schlimm werden. Oder hast du Angst, ihr zu begegnen?“
Julius nickte. „Was mache ich, wenn sie vergessen hat, dass es mich überhaupt gibt?“
„Du wirst ihr doch keine Vorwürfe machen!“, ermahnte ihn sein Freund.
Julius schüttelte den Kopf. Er wusste nicht, was er tun sollte, wenn er erst vor dem Bett seiner Mutter stand.
Lischka klopfte ihm aufmunternd auf den Oberschenkel. „Sieh es mal so: Für überschwängliche Mutterliebe ist es wahrscheinlich zu spät. Aber vielleicht erfährst du etwas, was dir weiterhilft. Du solltest nicht zu viel erwarten.“
Julius nickte wieder. Er war sehr froh, dass Rudolph Lischka ihn zu diesem Termin begleitete, auch wenn er in der Irrenanstalt Brünnlfeld anderweitig beschäftigt war. Er würde versuchen, aus Doktor Brucker etwas über dessen ehemaligen Patienten Alois Lanz herauszubekommen.
Das Krankenhaus lag auf einer kleinen Anhöhe, auf der im Frühling wieder ein Park erblühen würde. Ein Springbrunnen hielt Winterschlaf, und ein paar Patienten wurden von dick vermummten Pflegern vor dem Gebäude spazieren geführt.
Das Hauptgebäude war zweistöckig mit hohen Bogenfenstern und einem
Weitere Kostenlose Bücher