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Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien

Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien

Titel: Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Hasler
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ein Engagement in Berlin am Opernhaus. Aber vor ein paar Jahren bekam sie Diphtherie und musste in Berlin aufhören. Sie hat beschlossen, nach Wien zurückzukehren, weil sie hier sterben will. Sie hat aus der Zeitung vom Tod deines Vaters erfahren und ihm diesen Kranz bringen lassen. Mehr weiß ich auch nicht.“
    Sie öffnete die Tür und zog ihn hinein. In dem Zimmer würde auch im Mai noch Winter sein. Das Wesen des Winters schien hier zu wohnen und sich an die Wände zu saugen wie hartnäckige Muscheln. Alles war weiß. Sogar das Kruzifix an der Wand war weiß lackiert.
    Julius musste blinzeln und konnte die Gegenstände im Zimmer zuerst nicht unterscheiden, so sehr verschwamm alles in dieser eintönigen Patina der Farblosigkeit. Weiße Vorhänge vor einem weißen Winterhimmel, weiße Rohrstühle und ein von weißem Metall umgebenes Bettengebirge. Und zwischen den Hügeln und Schneeverwehungen der Laken und Kissen thronte still und erhaben die Bewohnerin des Zimmers. Maria Habermanns auffälligstes Merkmal war ein Kranz schlohweißer Haare, der um ihren Kopf geschlungen war. Ihre Augen, fahl und farblos wie Austernfleisch, lagen in einem Netz aus Falten. Sie zuckten zur Tür, als die Besucher eintraten. Julius’ Magen krampfte sich zu einem harten Klumpen zusammen. Johanna schien seine Unruhe zu spüren und legte ihm die Hand auf die Schulter. Aufmunternd schob sie ihn auf das Bett zu.
    „Maria, schauen Sie mal, wer da ist“, hörte er ihre freundliche Stimme.
    Einen Moment lang schien es so, als könnten Maria Habermanns Augen keinen festen Punkt erfassen, doch dann starrten ihn diese hellen, durchscheinenden Augen direkt an.
    Ihr Mund öffnete sich zu einem stummen, anklagenden Loch. Julius erschrak so heftig vor diesem Gesicht, dass er am liebsten sofort aus dem weißen Zimmer geflohen wäre. Aber Johannas Blick war stark und tröstlich. Julius brachte ein nervöses Räuspern zustande. Dann hob Maria Habermann die Hand und wies mit einem zittrigen Finger auf ihn.
    „Du!“, krächzte sie. „Dass du es wagst, hier aufzutauchen, nachdem ich mich ein Leben lang von dir ferngehalten habe!“
    Ihre Stimme war dunkel und schleppend wie ein einfahrender Zug, den man aus der Ferne hört.
    „Aber Maria, Sie wissen doch noch gar nicht, wer das ist“, tadelte Johanna sanft.
    „Das weiß ich sehr wohl“, fauchte die alte Frau. „Du bist Joseph Pawalet, mein persönlicher Teufel, mein Verderben … Joseph! Wenn du doch nur schon tot wärst!“
    Julius spürte, wie Johanna sich neben ihm verkrampfte.
    „Maria, das ist sehr unhöflich von Ihnen“, sagte sie leise, aber bestimmt. „Dieser junge Mann ist nicht Joseph, sondern Ihr Sohn. Erinnern Sie sich nicht?“
    „Ich habe keinen Sohn!“, zischte die alte Frau. Julius wäre gern gegangen, aber Johannas Griff an seiner Schulter war fest. Sie schob ihn näher zum Bett. „Maria, das hier ist Julius, Ihr Sohn. Joseph ist doch schon eine Weile tot. Wissen Sie noch? Sie haben mich mit einem Kranz an sein Grab geschickt.“
    Wütend schlug die alte Frau mit der Faust auf ihre Bettdecke ein. „Dieser Hund hat keine Blumen verdient, sondern den Galgen. Also, warum bist du hier, Joseph? Willst du mich um Vergebung bitten?“ Sie starrte Julius mit ihren durchscheinenden Augen herausfordernd an.
    Bevor Johanna etwas sagen konnte, straffte Julius sich und schob ihre Hand von seiner Schulter. Er setzte sich auf die Bettkante und sagte mit fester Stimme: „Ja, ich will dich um Vergebung bitten.“
    „Dafür ist es jetzt zu spät, du elender Verbrecher! Du siehst ja, dass du mein Leben zerstört hast. Gestern noch war ich ein junges Mädchen. Aber du hast mich in ein Gespenst verwandelt.“
    Und dann schoss ihre bleiche Hand vor und knallte gegen Julius’ Kopf. Der zuckte erschrocken zurück. Johanna packte entsetzt die Hand der alten Frau und hielt sie fest. „Mitzi, bitte beruhigen Sie sich.“
    „Lass nur“, sagte Julius mit mühsam beherrschter Stimme. „Maria hat ganz recht, dass sie mich schlägt. Du hast ja gehört. Ich habe ihr Leben zerstört. Maria …”
    Er wandte sich wieder zu seiner Mutter. „Ich weiß, dass ich ein schlechter Ehemann war. Ich habe dich oft allein gelassen, und ich habe getrunken.“
    „Gesoffen hast du. Weil du nicht mehr ausgehalten hast, was du getan hast“, schimpfte die alte Frau. Speichel spritzte aus ihrem Mund.
    Johanna versuchte weiter, sie zu beruhigen, indem sie ihr über die Hand strich. Julius sah sie bittend an. Seine

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