Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
„Ich verzeihe einem gewissenlosen Schuft wie dir nicht. Du hast den Kaiser betrogen. Ich konnte nicht in Österreich leben, nachdem du unserem Kaiser das angetan hast …“
„Was angetan?“, fragte Johanna fassungslos.
„Dieser Betrug … dieser Diebstahl …“, flüsterte sie. Ihr Gesicht war rot angelaufen, und Tränen strömten ihr über die Wangen. „Du verdienst die Hölle.“
„Julius, ihr Puls rast“, sagte Johanna und schob ihn von der Bettkante. „Bitte, wir müssen jetzt aufhören. Wir … wir versuchen es ein andermal weiter, ja?“ Johanna zog an der Klingelschnur über dem Bett, und kurze Zeit später eilte eine Wärterin in den Raum und zog eine Spritze auf. Sie und Johanna redeten beruhigend auf die alte Frau ein. Julius stand wie angewurzelt daneben und versuchte, seine pochende Unruhe zu vertreiben. Seine Mutter hatte genau das gesagt, was er selbst vermutet hatte. Sein Vater, Joseph, war in irgendwelche kriminellen Machenschaften mit dem Hofrat und dem Kopisten verwickelt gewesen. Sie hatte von einem Betrug am Kaiser gesprochen, und damit konnte nur das Kunsthistorische Museum gemeint sein. Julius fragte sich, wie viel Bedeutung er ihren Worten beimessen konnte, schließlich hatte Johanna behauptet, sie hätte wahnhafte Phasen. Was, wenn sie nur wirres Zeug redete? Er schaute auf das weiße Bett, in dem der ausgemergelte Körper seiner Mutter lag, während ihr Blick langsam trübe wurde. Die Krankenwärterin zog behutsam die Nadel der Spritze aus der Armbeuge seiner Mutter und bedeutete Johanna, die Patientin zuzudecken.
„Keinen Sohn …“, flüsterte Maria Habermann schwach und warf den Kopf hin und her. „Ich habe doch gar keinen Sohn … Joseph.“ Dann fielen ihr die Augen zu, und sie schien eingeschlafen zu sein.
Die Wärterin wandte sich an Johanna. „Sie als Krankenschwester müssten doch wissen, dass sie sich nicht aufregen darf!“ Anklagend zeigte sie auf Julius.
Ohne ein weiteres Wort ging er aus dem Zimmer und wartete zitternd auf Johanna. Sie erschien wenig später und führte ihn wieder hinunter in die große Eingangshalle.
„Es tut mir leid …“, stammelte Julius. Er schämte sich plötzlich vor Johanna, dass er den hilflosen, verwirrten Zustand der alten Frau ausgenutzt hatte. Aber er konnte nicht anders.
„Erklärst du mir, was da los war?“, fragte Johanna, doch Julius schwieg.
„Ich werde nach ihr sehen. Sie war monatelang Patientin im Allgemeinen Krankenhaus und hat sonst niemanden, der sich um sie kümmert.
Julius nickte düster. „Ich versuche, Antworten zu finden auf Dinge, die mich sehr belasten, Johanna. Und meine Mutter ist die einzige Person, die sie mir geben könnte. Meinetwegen braucht sie auch gar nicht zu wissen, wer ich bin. Ich wollte nur wissen, was sie über meinen Vater zu sagen hat. Und das hat sich ziemlich genau mit dem gedeckt, was ich vermute.“
Johanna seufzte unglücklich. „Es tut mir so leid, Julius. Du wirst deine Mutter vermutlich nie mehr in einem Zustand erleben, dass du dich ihr offenbaren kannst.“
Julius zuckte mit den Schultern. „Halte mich ruhig für herzlos, aber das ist mir gleichgültig.“
„Kannst du verstehen, dass sie dich allein gelassen hat?“, fragte Johanna leise.
„Ja und nein.“
„Warum ja und warum nein?“, bohrte sie weiter.
„Weil ich glaube, dass aus mir ein besserer Mensch geworden wäre, wenn ich sie gehabt hätte. Und weil ich mir vorstellen kann, wie schrecklich es für eine Frau gewesen sein muss, mit jemandem wie meinem Vater zu leben. Sie wollte ihn aus ihrem Leben verbannen. Und deswegen glaube ich, dass meine Mutter mich auch in einem klaren Moment nicht erkennen wird. Sie hat keinen Sohn, das hat sie doch gesagt.“
Johanna nickte betrübt. „Ich glaube aber auch, dass sie ein schlechtes Gewissen hat. Sie lebt mit der Schuld, dass sie ihr einziges Kind bei einem schlechten Menschen zurückgelassen hat. Und wahrscheinlich wird sie bald sterben. Ich kann mir vorstellen, dass sie diese Schuld vor ihrem Tod noch begleichen will.“
***
Zur gleichen Zeit, als Julius nervös das Zimmer seiner Mutter betrat, ließ Inspektor Lischka sich ins Büro von Doktor Brucker führen. Eine junge Nonne brachte ihn in einen etwas abgelegenen, ruhigen Flur und öffnete eine weiß lackierte Tür. Lischka machte sich darauf gefasst, einem abweisenden, unpersönlichen Arzt zu begegnen, der versuchen würde, ihn abzuwimmeln. Doch als er das Büro betrat, in dem es durchdringend nach
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