Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
Ledergerte ihr Gesicht gestreift hatte. Wenn Julius nur wüsste, dass diese Hexe seitdem in Johannas Kopf herumspukte wie eine Wahnvorstellung. Dass sie sich seitdem fragte, was sie tun konnte, um genauso zu sein wie Luise von Schattenbach.
Julius antwortete nicht.
„Sag schon. Du bist ihr doch sicher begegnet in dieser Nacht draußen auf dem Landsitz“, sagte sie herausfordernd.
„Sie wird ihre eigenen Wege gehen, nehme ich an“, sagte Julius.
„Und du kennst diese Wege?“, fragte sie. „Wirst ihr auf diesen Wegen folgen bis ans Ziel?“
„Johanna, bitte, lass das“, murmelte er.
„Ist es dir gelungen?“
„Was?“ Jetzt drehte er sich um und musterte sie mit gerunzelter Stirn.
„An sie zu denken, als du in mir warst.“
Julius schnaubte verärgert. „Johanna, du solltest jetzt lieber gehen. Was hast du erwartet? Du hast dich angeboten wie ein … ein leichtes Mädchen. Ich habe dieses Angebot angenommen, auch wenn es wenig romantisch war. Denkst du, ich hätte dich daran erinnern sollen, dass wir vielleicht alle Zeit der Welt gehabt hätten, wenn alle Schwierigkeiten überwunden sind? Ritterlich verzichten sollen angesichts deines Hungers? In ein paar Wochen, Johanna, wäre ich … Aber vielleicht ist es besser so.“
„Wie meinst du das?“
Er drehte sich wieder zum Fenster um und verschränkte die Hände.
„Vergiss es. Du solltest jetzt gehen.“
Die Scham breitete sich über sie wie ein schwerer muffiger Mantel. Es gab nichts mehr zu sagen. Sie fühlte sich genauso wie damals im Prater, als die Demütigung durch Luise von Schattenbach in ihr die Lust geweckt hatte, zu verletzen. Sie wünschte, sie könnte Julius die Scherbe einer Teetasse ins Fleisch stoßen, ihn verstören, so wie an dem Tag, als sie ihm die Existenz seiner Mutter entgegengeschleudert hatte. Zugleich wusste sie, dass dieser Moment heute Abend vor dem Einschlafen in ihr nachsickern würde wie bei einer tropfnassen schweren Blüte. Sie schob diese gespenstische Lust empört von sich.
Sie hob ihr Schultertuch auf und legte es sich um. Dann nahm sie ihren Mantel. „Ach übrigens, ich würde dir raten, dich zu beeilen. Deine Mutter wird nicht mehr lange leben. Du könntest ausnahmsweise einmal etwas richtig machen und ihr sagen, was aus deinem Vater geworden ist. Das würde ihr helfen, in Frieden zu sterben.“
X
Als Julius aus der Elektrischen stieg und durch den abendlichen Schneefall zur Irrenanstalt am Brünnlfeld eilte, schien in seinem Brustkorb ein panischer kleiner Vogel zu wüten wie in einem Käfig. Was Johanna gesagt hatte, befeuerte die unterschwellige Unruhe, die ihn seit seiner Freilassung quälte. Julius wusste nicht woher das nagende Gefühl kam, das nichts Bestimmtem galt. Seit Leutnant Tscherba ihn offiziell für unschuldig erklärt hatte, war keine erleichterte Ruhe mehr in ihn eingekehrt. Zu viele Fragen, zu viele Sackgassen taten sich in seinen Gedanken auf.
Man hatte ihm im Namen des Kaisers eine Abfindung von sechs Monatsgehältern als Saaldiener ausbezahlt und ihn verpflichtet, über die Angelegenheit des Museums Stillschweigen zu bewahren. Seitdem lag Julius nachts wach und fragte sich, was geschehen würde. Die Ereignisse der letzten Wochen hatten ihn gelehrt, auf dieses seltsame, bohrende Gefühl von Unruhe zu hören. Irgendetwas schien immer noch im Unreinen zu sein. Irgendwo schwelte etwas, das spürte Julius. Er ertappte sich dabei, wie er auf den Straßen Ausschau nach Luise hielt. Ein anderer Teil wiederum fieberte neuen Berichten über den Bildermörder entgegen, der in den letzten Tagen wohl den Feiertagen Respekt zollte. Es war, als läge über Wien eine Glocke aus ängstlicher Erwartung auf den nächsten dramatischen Leichenfund.
Inspektor Lischka war kaum noch zu Hause, weil er dem polizeilichen Protokoll genügen und seinen Abschied aus der Sicherheitswache amtlich machen musste. Außerdem wurde er als Zeuge im Fall des Hofrats zu der Nacht befragt, in der dieser nach Triest geflohen war. Und nun verstärkte auch noch Johanna seine unbestimmte innere Unruhe.
Er verdrängte die Eindrücke ihrer intimen Begegnung. Als Johanna die Wohnung verlassen hatte, war Julius erschrocken über die Leere in seinem Innern. Er verscheuchte krampfhaft die Erinnerung an sein viehisches, rücksichtsloses Verlangen.
Und seine Mutter? Julius hatte nicht vorgehabt, die alte Frau in ihrem weißen Zimmer noch einmal zu besuchen. Es war, als hätte in seinem Innern jemand ein dickes Buch mit einem
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