Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
eindeutiges Bildzitat.“
„Und woher wissen Sie das?“, fragte der Mann.
Julius vergrub die Hände in den Manteltaschen. Ihm ging auf, dass er sich gerade wahrscheinlich sehr verdächtig machte.
„Ich … kenne es eben.“
Der Mann schwieg. Wahrscheinlich würde er gleich auf der nächsten Polizeistation eine Beschreibung von Julius geben. Doch stattdessen verschränkte er die Arme vor der Brust und sah nachdenklich zu dem Fenster hinauf. In diesem Moment erschienen zwei Sanitäter, die versuchten, den Körper von Maria Habermann aus der Scheibe zu lösen.
„Aber … wenn auf diesem Bild nur ein Mann abgebildet ist, der aus einem engen Fensterausschnitt schaut …“, sagte der Mann nachdenklich, „warum nimmt der Bildermörder es dann als Vorbild für einen Mord? Darauf ist dort doch nichts zu sehen, was irgendwie mit dem Tod zu tun haben könnte … Es ist doch eine ziemlich große Abstraktionsleistung, so etwas daraus abzuleiten. Außerdem ist das da oben eine Frau, wenn ich das recht erkenne.“
Julius drehte den Kopf und schaute den Mann, der so gewählte Worte für seine Analyse gefunden hatte, erstaunt an. Eine Ader an der blassen Stirn pochte heftig wie ein sich unter der Haut windender Wurm.
„ Im Gegenteil“, sagte Julius. „Ich glaube, er wird langsam beliebig.“
Sein Gesprächspartner fuhr herum. „Was? Wie meinen Sie das?“
„Nun, ich denke, der Bildermörder – was für ein alberner Name übrigens – hat allmählich keine Geduld mehr für seine früheren großen, ausgeklügelten Inszenierungen. Er kann aus irgendeinem Grund nicht mehr auf die großen dramatischen Tatorte der Alten Meister im Kunsthistorischen Museum zurückgreifen. Und da sucht er sich eben beliebigere Motive aus, und leitet daraus rein physikalische Todesarten ab. Bald wird er anfangen, seine Opfer ans Kreuz zu schlagen. Kreuzigungsbilder gibt es genug im Museum.“
Der Mann starrte ihn fassungslos an und kam einen Schritt näher.
„Ah. Das wissen Sie also genau, was?“
„Nein“, sagte Julius bemüht unbekümmert, „ich stelle nur Vermutungen an.“
Zum ersten Mal seit Beginn der seltsamen Unterhaltung betrachtete er sein Gegenüber nun genauer. Der Mann war wohl etwas älter als vierzig und hatte ein glattes farbloses Gesicht ohne den geringsten Bartschatten. Die Augen lagen tief in den Höhlen. Der Mund war nur ein schmaler Strich, eigentlich nur eine flache Hautöffnung.
Julius legte den Kopf schief. „Ich kenne Sie“, sagte er. Im selben Augenblick konnte er das dazu passende Bild in seinem Kopf abrufen. „Sie waren im Kunsthistorischen Museum. Bei dieser Gruppe, die sich Rubens’ Die vier Erdteile angeschaut hat.“
„Na und?“, fragte der Mann, „Warum erwähnen Sie das?“
Julius zuckte die Achseln. Er hoffte inständig, dass er gelassen aussah, denn in seinem Innern geriet plötzlich alles aus dem Gleichgewicht. Sein Speichel wurde schlagartig bitter, als er begriff, wen er vor sich hatte.
„Ich habe mich nur an Ihr Gesicht erinnert“, sagte er. Seine Lippen bebten. „Ich habe ein sehr gutes Gedächtnis, mehr nicht.“
Die Kälte des Anstaltsparks drang unter seinen Mantel. Seine Füße schienen im Schnee festgewachsen zu sein. Oben am Fenster ertönte wieder ein Schrei. Der Kopf war verschwunden. Man sah jetzt deutlich, dass aus dem einen Fensterflügel ein Stück der Scheibe herausgetrennt worden war. Jemand hatte mit einem Glasschneider unglaublich präzise Arbeit geleistet, ohne dass alles zersprungen war. Dann war der Hals der alten Frau wahrscheinlich in die Öffnung gesteckt und auf den Rand des Glases gepresst worden, sodass sie sich mit ihrem eigenen Gewicht die Kehle durchtrennt hatte.
Julius erschauerte beim Gedanken daran, dass ihm etwas Derartiges beim Betrachten des Hoogstraten-Gemäldes ebenfalls schon eingefallen war. Irgendetwas in ihm bewunderte die klare, kalte Leistung des Mörders. Doch er verharrte stumm und unbehaglich neben dem Mann.
„Ein paar Tage später sind die Kinder in das Tiergehege gefallen“, stellte Julius tonlos fest.
Der Mann schwieg. Eine Frau weinte. Abgehackte Schluchzer wehten durch die kalte Luft zu ihnen. Der Mann holte tief Atem und sagte: „Es wundert mich, dass Sie so viel über den Bildermörder wissen. Diese Zusammenhänge … das weiß kein normaler Zeitungsleser.“
„Ich lese keine Zeitung.“
Der Mann sah sich ein wenig hektisch um. „Ich sollte langsam gehen.“
Julius nickte. „Die Polizei wird gleich hier
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