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Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien

Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien

Titel: Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Hasler
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satten, zufriedenen Knall zugeschlagen. Doch nun flatterten schon wieder lose Seiten mit unangenehmen Leerstellen im Wind, und Julius spürte, dass das Geheimnis, das ihn zu umgeben schien, immer noch nicht bis in den letzten Winkel ausgeleuchtet war.
    Als Julius die Anhöhe, auf der das Krankenhaus lag, überwunden hatte, spürte er heißen Schweiß auf seinem Rücken. Er spähte hinauf zum Dach des Hauptgebäudes, auf dem es eine Art Aussichtsplattform für Wachpersonal gab. Er nahm an, dass von hier aus nach ausgebrochenen Insassen Ausschau gehalten wurde. Doch jetzt war der Ausguck leer, und auf der Brüstung bauschte sich der Schnee wie dicke Kissen.
    Seine Mutter lag in einem Zimmer im obersten Stock im linken Flügel des Gebäudes. Er ließ den Blick an der Fassade entlangwandern und versuchte sich vorzustellen, hinter welchem der Fenster sie langsam starb.
    Im winterlichen Licht wirkten die Scheiben wie Metallplatten, hinter denen sich unmöglich Leben abspielen konnte.
    Dann sah er etwas, was ihm eigenartig vorkam. Irgendwie verkehrt und unpassend für diesen Ort. Dort oben schaute jemand aus einem geöffneten Fenster zu ihm herunter.
    Es war seine Mutter.
    Trotz der eisigen Kälte und dem Wind hatte sie den Kopf herausgestreckt. Doch etwas an ihrem Anblick war seltsam. Julius kniff die Augen zusammen und starrte nach oben. Langsam hob er die Hand und winkte. Doch der Kopf dort oben blieb eigenartig reglos im Fensterviereck.
    Julius schloss einen Moment lang die Augen. Seine Knie gaben nach, als er begriff, was er da gerade sah. Er zwang sich, das Bild in seinem Kopf zu verscheuchen, und schlug die Augen wieder auf. Die beiden Fensterflügel waren nicht geöffnet. Nein, das Fenster sah geschlossen aus. Wie konnte es dann aber sein, dass ihr Kopf herausschaute? Es war, als wäre der Kopf außen an der Scheibe angebracht.
    Im selben Moment ertönte irgendwo hinter den Fenstern ein lauter Schrei, und die Spaziergänger blieben stehen. Einige folgten seinem Blick nach oben. Ein offensichtlich verwirrter Mann stieß weinerliche Laute aus. Da öffnete sich neben dem Kopf endlich der Fensterflügel, und eine Krankenwärterin mit weißem Häubchen erschien. Ihr Gesicht war nur ein bleicher Fleck, so wie schmutziger Schnee. Wieder ertönte ein Schrei, diesmal gellend und so fassungslos, das die gesamte Szenerie am Fuß des Haupthauses einfror. Die Wärter, die ihre Patienten spazieren führten, ein Lieferant mit Milchflaschen, eine Nonne, vereinzelte Besucher und Julius selbst. Und jetzt sah er auch ganz deutlich das schwarze Rinnsal, das an der Fensterscheibe herunterlief.
    Julius drehte sich um. Er hatte genug gesehen.
    „Was, um Gottes willen, ist das da oben los?“, hauchte ein blasser Mann neben ihm und presste die Fäuste auf den Mund.
    „ Alter Mann im Fenster . Von Samuel van Hoogstraten“, sagte Julius.
    Der Mann starrte ihn verständnislos an. „Was haben Sie gesagt?“ In seiner Stimme schwang der Verdacht mit, dass Julius möglicherweise selbst ein unbeaufsichtigter Insasse der Anstalt war.
    „ Alter Mann im Fenster . So heißt ein Gemälde von Van Hoogstraten aus dem Kunsthistorischen Museum.“ Er starrte in den zertretenen Schnee zu Füßen des Mannes. Seine Gedanken schweiften ab zu dem Bild; er sah es in allen Einzelheiten vor sich. „Es ist ein ganz erstaunliches Trompe-l’oeil.“
    „Ein was? Junger Mann, was reden Sie denn da!“, herrschte der Spaziergänger ihn an und stemmte herausfordernd die Fäuste in die Hüften.
    Julius hob entschuldigend die Hände und zuckte mit den Schultern.
    „Ein Trompe-l’oeil ist ein Gemälde, das das Auge täuscht. Bei dem Bild, das ich meine, sieht man das Gesicht eines alten Mannes, der aus einem Fenster mit Butzenscheiben schaut. Das Gesicht ist allerdings so in eine Scheibe zwischen den Sprossen eingepasst, dass es aussieht, als würde der Kopf dort … feststecken. Als könnte der Mann ihn nicht mehr zurückziehen. Man muss sehr genau hinsehen, um zu erkennen, dass da eine Öffnung ist, durch die sein Kopf passt. Und dieser Mörder, der das da oben …“, er deutete vage auf die Fassade, „… getan hat, scheint ebenfalls ein großer Künstler zu sein.“
    Der Mann schwieg. Es war ein sehr anklagendes Schweigen. Julius hob den Kopf. „Kennen Sie das Bild?“
    „Warum fragen Sie mich das? Denken Sie, dass der Bildermörder wieder zugeschlagen hat?“ Jetzt klang der Besucher richtig aufgeregt.
    Julius nickte. „Für mich ist das ein sehr

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