Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
zurücksinken und sagte noch einmal mit leiser Stimme: „Hör auf zu reden. Wenn du so ein großer Künstler bist, wie du behauptest, dann tu es endlich.“
Dann schloss er die Augen. Julius wusste selbst nicht, woher er die Gewissheit nahm, dass Alois Lanz noch nicht so weit war. Er betete, dass in der Zwischenzeit irgendjemand das Verschwinden des Pförtners bemerkt hatte und der Sache nachging. Es konnte doch nicht sein, dass diese Menagerie tatsächlich der ungestörteste Ort in Wien war, an dem der Wahnsinnige sein letztes Werk vollendete!
Julius’ Hoffnung schien sich zu erfüllen, denn Lanz begann wieder zu sprechen.
„Damit du es besser verstehst, Julius, muss ich dir sagen, dass du die Krönung meines Werkes bist. Du bist der, der mich erkannt hat. Du hast erkannt, wer ich bin, und was ich tue. Du bist mir gefolgt auf einer Fährte, die die Polizei nicht gefunden hat.“
Julius öffnete die Augen. „Was erzählst du da? Ich bin dir nicht gefolgt.“
Lanz lachte. „Oh doch, das bist du. Du bist mir zu dem Juwelier gefolgt und hast seine Leiche gesehen. Du wusstest, dass ich ihn getötet habe, hast aber nicht die Polizei benachrichtigt.“
Verständnislos sah Julius zu ihm hoch und schüttelte den Kopf. „Das … stimmt nicht …“
Lanz fuhr unbeirrt fort. „Und du bist mir zur Anstalt am Brünnlfeld gefolgt. Du weißt, was mir dort widerfahren ist, nicht wahr? Wie ich dort gelitten habe. Wie sie mich dort vernichtet haben. Aber ich bin aus eigener Kraft am Leben geblieben.“
Eine kalte Hand legte sich wieder auf Julius’ Bauch. „Du wusstest es die ganze Zeit und bist mir dorthin gefolgt. Außerdem hast du meine Bilder gefunden, die ich unter dem Boden versteckt habe. Allein dass dein Weg dich in diese Wohnung geführt hat, zeigt mir, was für eine Bedeutung du für mich hast. Und dieser Bedeutung kannst du dich nicht entziehen.“
Es dauerte ein paar Sekunden, ehe Julius begriff, dass Lanz das Porträt seines ersten Opfers meinte, das er unter den Bodendielen seiner letzten Wohnung gefunden hatte. „Ach, diese stümperhaften Dinger!“, warf er ihm entgegen. „Ich habe sie billig verkauft. Wenn ich gewusst hätte, dass sie von dir sind …“ Julius hoffte inständig, dass ihm eine Mischung aus Verachtung und erzwungener Bewunderung gelang.
Alois Lanz zuckte ganz kurz zurück. Die Beleidigung seines Opfers grub ganz kurz zwei scharfe Linien in seine Stirn. Doch dann lächelte der dünne Mund wieder, und er schüttelte den Kopf, unbekümmert und siegessicher.
„Du glaubst, nur weil der Hof mich damals als Maler abgelehnt hat, bin ich ein schlechter Maler?“
„Du bist ein schlechter Maler“, betonte Julius. „Na und? Ich kann auch nicht malen. Deswegen versuche ich es erst gar nicht.“
Alois Lanz schloss kurz die Augen, als wollte er sich zur Ruhe mahnen. „Sag, warum bist du mir dann gefolgt, wenn du mich für so unwürdig hältst?“
„Ich bin dir nicht gefolgt!“, stieß Julius hervor und zerrte wieder an seinen Fesseln. Plötzlich merkte er, dass das Seil an seiner rechten Hand lockerer saß als an den anderen Gliedmaßen.
„Du bist mir gefolgt!“, beharrte Alois Lanz. „Ich habe dich gesehen, die ganze Zeit über. Warum hast du das getan?“
„Dir folgen? Warum sollte ich einem geistesgestörten Amateurmaler folgen? Wie kommst du darauf, dass ich dir so viel Beachtung schenken würde?“
Julius hätte gern gelacht beim Anblick des gerade noch so gefährlichen Gesichts über ihm. Die kalte Hand auf seinem Bauch wurde hart, er spürte Fingernägel, die sich in seine Haut gruben. Wo eben noch selbstsichere Verachtung und dieser tödliche Eifer waren, huschte nun ein schmerzlicher Ausdruck über Lanz’ Züge. Er sog die Luft ein wie ein bitteres Gas, und sein Gesicht verzerrte sich. Nur einen Augenblick lang, dann gewann wieder die dunkle, konturlose Maske des Bildermörders die Oberhand. Aber Julius hatte genug gesehen. Er gestattete sich ein erstauntes Lächeln und riss einmal heftig an seiner rechten Fessel.
„Du erstaunst mich, Lanz. Ich dachte immer, du bist überzeugt von dem, was du tust?“
„Was meinst du?“, blaffte der andere.
„Ich dachte immer, du bist ein wahrhaft überzeugter Mörder. Aber du bist bloß ein armer verkannter Künstler, den niemand anerkennt außer dir selbst.“
Lanz riss seine Hand zurück und starrte Julius hasserfüllt an. Es gelang ihm nicht länger sein belustigtes, belehrendes Grinsen beizubehalten.
„Wo kommt dieser
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