Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
dessen Hemd am Körper schlug, und er lächelte leise. „Aber Sie haben recht, Pawalet. Was Sie da mit dieser Luise von Schattenbach erlebt haben, ist äußerst seltsam. Wie erklären Sie sich aber, warum sie Sie ausgefragt hat? Warum wollte sie wissen, wie gut Ihr Auge ist? Was aber noch viel wichtiger ist, was denken Sie, wie viele Bilder gibt es im Kunsthistorischen Museum, die man derart umsetzen kann?“
„Hunderte“, antwortete Julius. „Denken Sie an all die Kreuzigungsbilder. Warum sollte er nicht auch unseren lieben Heiland zitieren?“
Am Nachbartisch drehten sich zwei ältere Männer zu ihnen um und starrten sie empört an. „Sprechen Sie leiser, Pawalet“, raunte Lischka.
„Werden Sie Luise von Schattenbach verhören?“
Lischka erhob sich und wandte sich zum Gehen. „Überlassen Sie mir die Ermittlungsarbeit. Aber machen Sie sich darauf gefasst, dass ich Sie jederzeit aufsuchen werde, um Ihnen Fragen zu stellen.“ Er wischte sich über die Augen und verschwand.
Julius lehnte sich zurück und schloss die Augen. Sein Herz pochte laut und hart gegen den schmalen Brustkorb, der ihn in Lischkas Augen wohl unverdächtig machte. Vorerst zumindest.
Julius fühlte sich unbehaglich in der Nähe des Inspektors. Etwas an diesem verunsicherte ihn zutiefst. War es Lischkas Stimme, die so kühl und tief war wie das Gewölbe eines Großstadtgefängnisses? Die tiefen, nachdenklichen Falten auf der Stirn, die verrieten, wie alarmiert er war? Oder lag es daran, dass er wusste, wie merkwürdig er dem Inspektor vorkommen musste? Er war immerhin der Sohn eines Mordopfers, dessen Wohnung angezündet worden war. Und genau zur gleichen Zeit beginnt ein offensichtlich kunstbesessener Mörder in Wien eine Serie grausiger Morde.
Sein Kopf fühlte sich dumpf an. Das Kaffeehaus war von einer Art Trägheit durchdrungen, von einer Stimmung wie kurz vor dem Schlafengehen. Seit er aus dem unheimlichen Treppenhaus auf die Straße getreten war, verspürte er eine unbestimmte Angst, die sich mit keiner genauen Vorstellung verknüpfte. Es war nicht die Furcht vor etwas Bestimmten. Nur ein tiefes Unbehagen, das ihn erfasst hatte. Es war die Angst, die er immer empfand, wenn er das Herannahen einer Krankheit spürte. Die Angst, dass sich etwas an seinem Zustand ändern würde, ohne dass er etwas dagegen tun konnte.
***
Als er später in seinem Bett lag, fiel Julius schlagartig etwas ein. Die Lupe!
Vielleicht war sie ihm in die Hände gefallen, damit er etwas ans Licht brachte, was bislang verborgen geblieben war. Und plötzlich wurde ihm klar, dass eine solche Lupe auch an der Staffelei von Otto Grimminger gehangen hatte. Natürlich! Ruckartig setzte Julius sich im Bett auf. Ein Kopist brauchte eine Lupe, um die feinsten Striche eines Alten Meisters zu studieren. Ohne Lupe konnte ein geniales Meisterwerk wie Grimmingers Kopie niemals gelingen! Doch was hatte er damit zu tun? Was sollte er mit einer Lupe entdecken können, was man mit bloßem Auge nicht erkannte? Hatte sie etwas mit dem Mörder zu tun?
Und in diesem Moment durchfuhr es Julius wie ein Stromstoß. Was hatte Lischka ihn gefragt? Wie viele Bilder gibt es im Kunsthistorischen Museum, die man derart umsetzen kann? Erschrocken sah er wieder den abgeschlagenen Kopf im Gewimmel der Schlangen vor sich. Morgen würde er Lischka raten, dass seine Kollegen das Terrarium in der Menagerie auch weiterhin bewachen sollten.
XI
„Es könnte sein, dass wir ein Problem haben“, sagte Luise und stieg aus ihrem Kleid, das zu Boden sank wie ein erlegter Pfau und als schillernder Hügel vor ihren Beinen liegen blieb. Der Hofrat zog behaglich die Bettdecke bis unters Kinn und starrte versonnen auf ihre Gestalt, die im angrenzenden Badezimmer verschwand. Er beobachtete, wie sie ihre Strumpfbänder löste, und verfolgte die herabgleitende Seide mit dankbarem Entzücken. Er hatte von Ehepaaren gehört, bei denen der Mann seine Gattin niemals nackt sah und wo sich das Wesentliche nur im Dunkeln abspielte. Ihn schreckte die Vorstellung, neben einer Frau zu leben, die sich nur hinter Korsetts und Kleidern verschanzte. Und er schätzte sich glücklich, dass Luise sich mit dieser ungezwungenen Schamlosigkeit vor ihm bewegte. Doch bei der Vorstellung, sie zu berühren, regte sich nichts in seinen Lenden. Es war eher die Aussicht, dass sie gleich neben ihm ins Bett steigen würde; ein kühles Wesen aus Elfenbein. Und es gab keinerlei Aussicht, sich ihr zu nähern. Das erregte ihn
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