Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
unendlich.
„Hörst du nicht zu?“, rief Luise aus dem Badezimmer, und der Hofrat schreckte aus seinen wohligen Betrachtungen auf.
„Was meinst du, meine Liebe?“
„Ich habe ihn heute gesehen“, verkündete sie und begann sich die Haare zu kämmen.
„Wen?“
„Julius Pawalet.“ Sie verlieh dem Namen einen unangenehmen Klang, der den Hofrat hellhörig machte. Er stemmte sich im Bett hoch.
„Er war hier. Kam angeschlichen wie ein hungriger Kater. Ich habe ihm ein wenig auf den Zahn gefühlt, und was ich erfahren habe, bedeutet nichts Gutes.“
Der Hofrat fühlte einen heftigen Stich in der Brust. „Wie meinst du das?“
Plötzlich war die betörend schöne nackte Frau im Badezimmer nur noch eine Übermittlerin schlechter Nachrichten. Neulich hatte sie ihm vorgeschlagen, den neuen Saaldiener einmal zu sich zu locken. Er hatte nicht gedacht, dass sie es tatsächlich tun würde. Doch seine Frau war den wichtigen Ereignissen schon immer einen Schritt voraus gewesen.
„Unter anderen Umständen hätte er niemals preisgegeben, was es mit seinem Sehvermögen auf sich hat.“ Ihre Worte kamen im Plauderton, so als erzählte sie ihm von einem neuen Paar Schuhe. „Ich musste leider feststellen, dass er die gleiche Krankheit hat wie der alte Pawalet. Wahrscheinlich sogar noch schlimmer.“
„Wie hast du das herausgefunden?“, fragte er mit erstickter Stimme.
„Ich habe mir vor ein paar Tagen ein paar Bilder herausgesucht und mir haargenau angesehen, mir alle Details gemerkt und sie mir eingeprägt.“ Sie tippte sich mit der Haarbürste an den Kopf. Ihr Haar leuchtete im Schein der Lampe wie das Fell eines urzeitlichen Tieres, fremd und betörend. Der Hofrat begann zu schwitzen.
„Und?“, keuchte er.
„Nun, ich habe mir solche Bilder ausgesucht, an denen die üblichen Besucher normalerweise vorbeigehen. Unspektakuläre Gemälde, auf die sich niemand konzentriert. Aber weißt du was? Dieser Julius hat sie alle gekannt. Ich habe ihn gefragt, auf welchem Bild ein bestimmtes Detail zu finden ist, und er wusste es. Stell dir vor, er geht wahrscheinlich an den Gemälden vorbei, und sein Kopf … bildet alles ab wie eine Fotografie.“
„Sei still!“, brach es auf einmal aus ihm heraus, und er krallte die Finger in das Laken.
Luise drehte sich um und sah ihren Gatten erschrocken an.
„Ich will das nicht hören! Ich wusste es! Es geht alles wieder los!“, jammerte er.
Luise lehnte sich mit ausdruckslosem Gesicht an die Tür und stemmte eine Hand in die Hüfte. „Du schreist mich an, Viktor? Mich? Nur zu, aber dann beschaff dir deine Informationen beim nächsten Mal selbst, du fetter Zwerg!“
Der Hofrat zuckte zusammen. Da war sie. Diese wütende, unversöhnliche Kälte in ihrer Stimme. Wenn er sie nur dazu bewegen könnte, ihn zu bestrafen für seine Ungeduld und für seine Lieblosigkeit. Er rang sich ein Lächeln ab und klopfte auf die andere Bettseite. „Entschuldige, ich wollte dich nicht anschreien. Ich rege mich nur so auf, weil diese Geschichte gar kein Ende nehmen will.“
Luise griff nach ihrem Hausmantel und zog ihn an. Der Hofrat seufzte traurig, denn er wusste, was das bedeutete.
„Es ist mir egal, ob es dich aufregt“, stieß sie hervor. „Reg dich gefälligst allein auf. Dazu brauchst du mich nicht.“
Und damit verließ sie das gemeinsame Schlafzimmer und schloss die Tür. Leise und ohne Wut. Der Hofrat wusste, dass sie diese Nacht in ihrem Reich verbringen würde, auf jenem schrecklich roten Polster, das er nur ein einziges Mal gesehen hatte. Er verscheuchte das Bild und hieb mit der Hand einmal gegen das Kopfteil des Bettes. Das war alles die Schuld dieses Julius Pawalet! Er zerstörte alles, dieser Abkömmling eines alten, hartnäckigen Feindes. Er würde etwas gegen ihn unternehmen müssen. Kinsky, dieser sentimentale Idiot! Der Hofrat würde ihm sagen, dass er ihn entlassen sollte. Und wenn das nicht funktionierte, würde er selbst dafür sorgen müssen, dass der Junge unschädlich gemacht wurde.
Es war gut, dass Luise jeden Tag ins Museum ging, um Grimminger zu überwachen.
Sie war so eine kühl denkende Frau, die ihn auch beim letzten Mal rechtzeitig gewarnt hatte. Wie kam er nur dazu, sie anzuschreien? Er würde sie morgen auf Knien erwarten und um Verzeihung bitten. Sie hatte seine unbeherrschte Wut nicht verdient. Dieser Julius hatte sie verdient. Der Hofrat löschte das Licht und starrte in die Dunkelheit. Er fasste einen Entschluss. Diesmal würde er nicht so
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