Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
lange warten wie beim unsäglichen Vater dieses Jungen. Wie schnell konnte man einen Unfall haben, bei dem man das Augenlicht verlor, dachte er befriedigt. Schon morgen würde er Louis Kranzer Bescheid sagen. Mit dem angenehmen Schmerz seiner Scham vor Luise schlief er ein.
XII
Der Künstler fühlte sich trunken. Vor ihm lagen die Zeitungen der letzten Tage und Wochen. Die Schlagzeilen nahmen bei jedem neuen Fund einen größeren Platz ein.
Als wären die Buchstaben der Überschriften ein erschrockener Aufschrei, der alle anderen Neuigkeiten an den Rand drängte.
Er hatte die Artikel mit roter Farbe eingerahmt und konnte nicht anders, als sie immer wieder zu lesen. Er hatte erreicht, was er wollte. Man redete über ihn.
Ganz Wien redete über ihn. Und man fürchtete ihn.
Bis jetzt sah es nicht so aus, als hätte die Polizei eine Ahnung, wer er war, geschweige denn, wo sie ihn suchen mussten.
Natürlich schrieb die Presse nichts darüber, wie verzweifelt das k. u. k. Sicherheitsamt war; das wäre äußerst schädlich für den Ruf dieser Institution. Aber der Künstler brauchte keine sogenannten Tintenstrolche , um zu wissen, dass der gesamte Wiener Polizeiapparat in höchster Alarmbereitschaft war. Er wusste, dass das, was er getan hatte, die hilflosen Gesetzeshüter in einen Schockzustand versetzen würde.
Zufrieden lehnte er sich zurück und dachte an das Gefühl, als ihm der weiche, leicht zappelnde Körper der kleinen Anna aus den Händen geglitten und auf den Steinen des Krokodilhauses aufgeschlagen war. Er hatte gerade noch zusehen können, wie das wütende Reptil das Maul aufsperrte und auf das Bündel zuhastete. Der eigentliche Tod des kleinen Mädchens war nicht mehr so wichtig. Er wusste, dass er das Bild perfekt umgesetzt hatte, und damit war seine Aufgabe beendet.
Jetzt nahm er den Applaus entgegen. Den wohlverdienten Applaus.
Gleichzeitig wusste der Künstler, dass er bei seinem letzten Geniestreich vielleicht ein wenig übertrieben hatte. Dieses Tableau vivant hätte er sich noch aufheben können. Der Tod dreier kleiner Kinder war etwas Besonderes, etwas Schreckliches. Es stellte gewissermaßen jetzt schon den Höhepunkt seines Schaffens dar. Alles, was jetzt noch kommen konnte, würde hinter diesem Meisterstück zurückbleiben. Was waren tote, arrangierte Erwachsene gegen tote Kleinkinder in einem Raubtiergehege? Und leider gab das Kunsthistorische Museum keinerlei Inspiration, die seine letzte Tat noch übertreffen konnte.
Außerdem, dachte er mit plötzlichem Missbehagen, fehlte es ihm derzeit an Perspektiven. Er hatte nämlich gerade keine Aufträge mehr. Das Porträt der Familie Juristoff war das letzte große Projekt gewesen. Er fragte sich, ob die Familie der Polizei von ihm erzählen würde. Sie würden ihn dennoch nicht finden.
Der Name, den Lanz bei seinen Gönnern angegeben hatte, war sein alter Name. Der Name seines Genies. Der, mit dem er in Wien gemeldet war, war ein anderer. Sie würden nie den richtigen Zusammenhang herstellen.
Aber es musste irgendwie weitergehen. Er brauchte dringend neue Modelle. Aber niemand hatte ihm einen Auftrag erteilt. Kein verliebtes junges Mädel, das ein Porträt für ihren jungen Liebhaber bestellte. Kein frisch verheiratetes Paar, das den Moment des Glücks festhalten wollte.
Wenn das so weiterging, musste er sich eine neue Strategie überlegen. Es musste einen Weg geben, sich Modelle zu beschaffen, ohne sie vorher zu malen. Er würde sich umsehen.
Ganz Wien war voll von Modellen.
Aber zuerst, so dachte der Künstler, würde er sich im Kunsthistorischen Museum noch einmal umsehen. Er würde sich neue Lust verschaffen, Inspiration holen. Vielleicht stach ihm ein Gemälde ins Auge, das seinen Schaffensdrang neu beleben würde. Und dann galt es, sich auf der Straße nach den lebendigen Ebenbildern dieser Ölfiguren umzusehen.
***
In der zweiten Dezemberwoche war es endlich so weit.
Julius Pawalet bekam seinen ersten Monatslohn und kaufte sich ein Extrablatt mit Wohnungsanzeigen. Ihm fiel eine Wohnung in der Nähe der Gumpendorfer Straße ins Auge. Er überquerte den Naschmarkt mit knurrendem Magen und achtete nicht auf die Auslagen der Fratschlerinnen und Händler, die trotz des Winters bunt leuchteten wie Laternen im Nebel und köstlich rochen.
Die Brücke der Kettenbrückengasse war verstopft mit Fiakern und Kutschen. Er wich dem aufspritzenden Schneematsch aus und wandte sich nach rechts, wo er einen schüchternen Blick auf die Fassaden
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