Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
der Linken Wienzeile warf. Ein eigenartiger Schmerz zog an seinem Magen, als er die zarten, farbenfrohen Ornamente auf den Otto-Wagner-Häusern sah. Sie wirkten wie märchenhafte Blumen und Ranken aus einem traumartigen Gewächshaus. Er konnte es kaum erwarten, seine zugige Dachkammer und die zänkische Hauswirtin hinter sich zu lassen.
Die ausgeschriebene Wohnung befand sich in einem einfachen Zinshaus in der Eggerthgasse. Irgendetwas regte sich in Julius’ Gedanken, als er das Straßenschild betrachtete. Wieso kam ihm der Name dieser Straße so bekannt vor?
Der Vermieter, ein grauhaariger Alter, sah seinen Interessenten misstrauisch an.
„Und Sie san sicher, dass S’ hier einziehen wollen?“, fragte er und wies auf die beiden kleinen, aber ordentlichen Zimmer.
„Warum nicht?“, sagte Julius. „Sehe ich so anspruchsvoll aus?“
Der Wohnungswirt schüttelte den Kopf. „Na, aber i hab mir denkt … bittschön, wegen dem, was hier passiert ist. Sie san der Erste, der die Wohnung wirklich mieten will.“
Julius wurde hellhörig. „Was meinen Sie damit, was hier passiert ist?“
„Na, wegen der armen Frau Kromichl. Die is genau dort g’funden worden, genau da, wo Sie grad stehen. Den Sessel hab ich auf den Mist ‘bracht, da drin will sicher keiner mehr sitzen.“
„Ich dachte, in Wien herrscht Wohnungsnot“, sagte Julius. „Da dürfte es doch eigentlich niemanden scheren, wenn hier jemand gestorben ist?“
Der Alte musterte Julius ungläubig. Dann zuckte er die Schultern.
„Sie wissen das gar net? Und ich dacht’ schon, Sie san ein ganz Abgebrühter. Die Frau Kromichl is nicht einfach g’storben. Die is ermordet worden. Von diesem Ungeheuer, das auch die armen Kinder auf dem G’wissen hat. So steht’s in der Zeitung. Glauben S’ denn, da will jemand einziehen? Seit sie die Leiche weggebracht haben, hab ich keinen mehr g’funden, der hier leben will. Also bittschön, wollen S’ die Wohnung jetzt oder nicht?“
Julius erschauerte. Das also war der Ort, an dem der Mörder das Kleopatra-Bild umgesetzt hatte. Hier hatte er der wehrlosen Lieselotte Kromichl eine Giftschlange angesetzt und sie zurückgelassen. Er sah sich in den beiden Zimmern um. Dort stand ein schmales Metallbett, in dem die Frau geschlafen hatte. An der Spiegelkommode hatte sie sich gekämmt und ihr Essen in der engen Küchennische zubereitet. Wollte er hier leben, nachdem er wusste, wie das Leben dieser Frau geendet hatte?
Ja, ich will, dachte Julius und verspürte eine seltsame Erregung. Er legte den Umschlag mit der ersten Monatsmiete auf den Tisch und sagte: „Ich bin ganz sicher.“
Der Wirt seufzte auf vor Erleichterung.
„Wechseln S’ nur das Namensschild unten an der Tür aus“, sagte er noch. Dann übergab er Julius den Schlüssel.
Noch am selben Tag verließ Julius die Pension bei Frau Hanak. Als er seinen leichten Kleidersack und die schwere Kiste mit den gestohlenen Büchern in die nächste elektrische Straßenbahn hob, empfand er eine derart leichte Heiterkeit, dass er fast aufgelacht hätte. Plötzlich schien ihm ein neues Leben möglich. So musste es sich anfühlen, wenn man eine Abzweigung genommen hatte und der Weg in eine bessere Gegend führte, dachte er und tastete nach dem Schlüssel in seiner Tasche.
Er besaß nicht viel, was er in seine neue Behausung mitnahm. Nur ein paar Blechschüsseln, einen Kamm und einige Kleidungsstücke. Und die Kiste, die sein ganzes bisheriges Leben enthielt.
Als es Abend wurde, stellte er seine Bücher auf die Kommode und tastete nach der Papierschachtel, die ganz unten in der Kiste lag. Er nahm den Deckel ab und schaute nach seinem Schatz. Es war ein Stapel stockfleckiger, zerknitterter Kunstdrucke. Er fuhr mit den Fingern über die rauhe, speckige Oberfläche und starrte in die Zeit zurück.
Diese Bilder waren alles, was sein Vater ihm hinterlassen hatte. Alle paar Monate hatte er damals eine der schäbigen Reproduktionen mit nach Hause gebracht und Julius verboten, sie anzurühren. Nur manchmal war er bereit, seine Schätze mit ihm zu teilen, und breitete sie auf dem Küchentisch aus, um sie gemeinsam mit seinem Sohn zu betrachten. Es waren Exemplare von schlechter Qualität gewesen. Eingerissene Ränder, nachgedunkelte Farben und verwischte Konturen. Ein Antiquar in der Josefstadt verkaufte sie für ein paar Münzen, und in seltenen Fällen hatte sich Joseph Pawalet sogar gegen eine Schnapsflasche und fü r ein solches bunt bedrucktes Blatt entschieden. Was er
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