Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
einen Schlag auf den Kopf bekommen und ist ohnmächtig geworden.“
Julius fühlte einen trägen Schmerz in sich aufsteigen. Was für eine traurige Geschichte.
„Außerdem“, fuhr Lischka fort, „ist jetzt Mitte Dezember. Es waren nur sehr wenige Spaziergänger in Schönbrunn unterwegs. Es ist einfach zu kalt. Der Mörder hatte relativ leichtes Spiel.“
„Aber woher wusste er das?“, fragte Julius. „Es gibt so viele Faktoren, die er niemals dem Zufall überlassen konnte. Woher wusste er, dass, ausgerechnet wenn die Tigerin in der Menagerie Junge hat, eine Gouvernante mit drei kleinen blond gelockten Kindern in Schönbrunn spazieren geht? Woher wusste er, dass es diese drei Kinder überhaupt gab und dass sie geeignet waren, um dieses Rubens-Gemälde nachzustellen? Es muss ein Bekannter der Familie sein.“
Lischka schüttelte bedauernd den Kopf. „Wir haben die Gouvernante und die Hausangestellten gefragt. Die Eltern sind unglücklicherweise am Wochenende nach Russland abgereist. Ihnen wurde bereits telegrafiert. Wir vermuten eher, dass es jemand ist, der entweder in der Menagerie arbeitet oder sich zumindest sehr gut auskennt. Wie hätte er sonst die Schlange finden und entwenden sollen? Diese Tiere sind ungeheuer giftig. Er musste genau wissen, wie er an sie herankommt, ohne selbst gebissen zu werden.“
Julius schüttelte den Kopf. Er konnte sich nicht vorstellen, dass ein einfacher Zooangestellter den Ehrgeiz hatte, Bilder aus dem Kunsthistorischen Museum nachzustellen.
Als hätte der Inspektor seine Gedanken gelesen, musterte er Julius plötzlich mit zusammengekniffenen Augen. „Sie werden verstehen, Pawalet, dass auch Sie nicht gerade unverdächtig sind, oder?“
„Was? Schon wieder?“
„Na, Sie müssen doch zugeben, dass Sie, der Sie über solch profunde Kenntnisse verfügen, durchaus verdächtig sind.“
„Sie scheinen mich zu mögen, Lischka. Ich bin mir nur nicht sicher, ob ich Sie auch mag“, murmelte Julius und senkte den Kopf über die Tasse, aus der der süße Duft der heißen Schokolade stieg.
Der Inspektor winkte ungeduldig ab und betrachtete Julius weiterhin zweifelnd und irgendwie fasziniert. „Wissen Sie, Pawalet, ich frage mich, wie es kommt, dass so ein armer Schlucker wie Sie ohne jede künstlerische Ausbildung ein derartiges Wissen haben kann.“
Julius sah ein, dass dieser Umstand tatsächlich sehr merkwürdig war. Er zuckte die Schultern und murmelte mit einem schiefen Grinsen: „Ist wohl eine besondere Begabung“, um von der Tatsache abzulenken, dass er Lischkas Frage nicht beantworten konnte. Er wusste selbst nicht, wie es kam, dass er all diese Details kannte und immer wieder abrufen konnte. Dann gab er dem Drängen seines aufgeschreckten Gewissens nach. „Ich muss Ihnen etwas gestehen, Lischka.“
Der Inspektor lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
Dann erzählte Julius ihm von seinen Besuch bei Luise von Schattenbach. Er ließ nichts aus, bis auf die Tatsache, dass seine Lenden immer noch enttäuscht pochten bei dem Gedanken an ihre Nacktheit unter dem durchsichtigen Gewand, bei der Erinnerung an ihre betörenden Hände an seinem Körper. Er hatte sich tatsächlich eingeredet, dass Luise von Schattenbach ihn einweisen würde in die vernebelten Kapitel eines Wissens, von dem Julius nur träumen konnte.
„Glauben Sie, dass die Dame so eine Art bizarre Liebesdienerin ist?“, fragte der Inspektor ungläubig.
„Nicht, dass ich fähig wäre, das zu beurteilen …“, murmelte Julius. Er wand sich in seinem Sessel.
„Und diese Frau hat Sie nach Details von Gemälden aus dem Museum gefragt, ja? Hatten Sie den Eindruck, dass auch sie ein sehr genaues Bildgedächtnis hat, so wie Sie? Wer weiß, vielleicht hat sie in Ihnen ja so eine Art Bruder im Geiste erkannt?“ Lischka hob schnell seine Tasse.
Julius war sicher, dass der Inspektor verstohlen in seinen Kaffee grinste.
„Die Fragen, die sie gestellt hat, legen jedenfalls nahe, dass sie sehr genauen Einblick in die Gemälde hat“, beeilte Julius sich zu sagen. „Was wahrscheinlich daran liegt, dass sie offenbar jeden Tag ins Kunsthistorische Museum geht.“
Der Inspektor faltete die Hände unter dem Kinn. „Wäre sie in der Lage, diese Morde zu verüben? Bisher hatte ich den Eindruck, dass ein starker Mann vonnöten ist, um diesen besonderen Tathergang zu bewerkstelligen.“ Während er das sagte, wanderte sein Blick über Julius’ schmale Schultern und über die Falten, die
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