Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
nicht wusste – Julius kletterte, wenn sein Vater nicht da war, was manchmal tagelang dauern konnte, auf einen Stuhl und angelte die verbotene Kiste vom Regal herunter. Stundenlang konnte er auf ein und dasselbe Blatt starren und sich fragen, wie es wäre, unter den Figuren darauf zu leben. Die Bilder wurden lebendig unter seinen Händen, und Julius hätte alles dafür gegeben, aus seiner armseligen, langweiligen Kindheit verschwinden zu können und von der faszinierenden Dimension der Miniaturdrucke eingesaugt zu werden.
Sein Vater hatte ihm erzählt, dass diese schäbigen Blätter nur Abziehbildchen von weitaus größeren, prächtigeren Gemälden seien, die allesamt in dem Museum hängen würden, das gerade gebaut wurde. Als Joseph Pawalet auf Nimmerwiedersehen verschwunden war, hatte er die Kiste mitgenommen.
Julius verteilte die Drucke auf der Kommode und lehnte einige davon gegen ein Wandsims, auf dem eine einsame Uhr tickte.
Warum tust du das, fragte er sich, als er die alten Drucke betrachtete. Was wollte er mit einem schlechten Druck von Lucas Cranachs Judith mit dem Kopf des Holofernes , wenn er das Original dieses Bildes jeden Tag im Museum zu sehen bekam?
Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass er sich von diesen Bildern nicht trennen konnte. Wie Mumien zerfielen sie langsam vor seinen Augen, und Julius hatte Angst vor dem Tag, an dem sie nichts mehr mit dem gemein hatten, was er einst daran geliebt hatte.
Da fiel ihm die Lupe wieder ein. Morgen würde er sie mit ins Museum nehmen und sehen, was er damit entdecken konnte.
Dann saß er ganz still da und starrte in die Schatten seines neuen Zuhauses. Die Luft hier drinnen war von einem Mörder geatmet worden, den die gesamte Wiener Polizei jagte.
***
Die wahre Offenbarung der Lupe entdeckte Julius am nächsten Tag, als er sie in einem der fast menschenleeren Säle hervorholte und sie ganz dicht an ein Ölgemälde aus der Barockzeit hielt. Niemand konnte ihn dabei beobachten. Nur eine Putzfrau wischte den Boden und achtete nicht auf ihn. Nicht einmal Otto Grimminger war an diesem Tag im Museum. Der Platz vor dem Original der Medusa war leer.
Auf dem Barockbild entdeckte Julius etwas, was niemand malen konnte, nicht einmal ein genialer Kopist wie Grimminger.
Er hatte den Fachbegriff für das vergessen, was sich unter dem Lupenglas abzeichnete. Ein feines, geometrisch anmutendes Netz aus Linien überzog das Gemälde, war aber an den weißen Stellen am deutlichsten zu erkennen. Mehreckige, manchmal runde Flächen hatten sich gebildet, die von haarfeinen dunklen Rissen umgeben waren. Ihm war das filigrane Gitternetz an winzigen Sprüngen, das durch die Trocknung des Firnis entstand, nie bewusst aufgefallen. Als Kind hatte er gedacht, dass die alten Maler sie nachträglich auf die Gemälde aufgetragen hatten, um ihnen dieses betagte Aussehen zu geben. Jetzt fiel ihm auch wieder der Fachausdruck dafür ein: Die Krakelüre war der Fingerabdruck der Zeit. Und sie war auf jedem Gemälde einzigartig. Die Zeit hatte dem getrockneten Firnis diesen Stempel aufgedrückt. Plötzlich legte sich eine schwere Hand auf Julius’ Schulter.
„Pawalet! So in Gedanken versunken?“, dröhnte Kinskys Stimme durch den Saal.
Julius zuckte zusammen wie unter einem Stromschlag, und die Putzfrau verschwand augenblicklich im nächsten Saal.
Er drehte sich zu seinem neuen Arbeitgeber um, der so unbemerkt aufgetaucht war wie eine Katze, obwohl sein Körperbau sein Nahen doch eigentlich hätte ankündigen müssen. Kinsky trug heute einen blauen Anzug und dazu eine rote Samtkrawatte.
„Was bannt Sie denn so, wenn ich fragen darf?“, fragte er mit einem Anflug von Spott. Julius schwieg. Die wässrigen Augen des Museumsdirektors blickten strafend, und das joviale Lächeln auf seinen Lippen konnte kaum verbergen, dass Gustav Kinsky wütend auf etwas war, das mit Julius zu tun haben musste. Als der nicht antwortete, sagte Kinsky: „Ja, ja, Ihr Vater hat das genauso gemacht.“
„Was meinen Sie?“, fragte Julius vorsichtig.
„Seine Aufgabe zu ernst genommen.“
„Wie kann man die Aufgabe eines Saaldieners zu ernst nehmen?“
„Nun, Ihre Arbeit besteht im weitesten Sinne aus Bereitschaft und Aufmerksamkeit. Sie sollen hier für Ruhe sorgen und den Besuchern den Weg weisen. Sie sollen aufpassen, dass den Gemälden nichts passiert.“
„Gibt es eine Beschwerde, dass ich bei meinen Aufgaben etwas versäumt habe?“ Julius wurde die Kehle eng.
„Im Gegenteil“, sagte
Weitere Kostenlose Bücher