Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
Vielleicht sucht sich der Mörder noch weitere Opfer in diplomatischen oder gar adeligen Kreisen. Wer garantiert uns, dass nicht der Kaiser selbst betroffen ist?“
Tscherba sah seinem Gast den Widerwillen offenbar an und lächelte gönnerhaft. Aus seinem Blick hätte man Schmierseife machen können. „Inspektor Lischka, ich verstehe, dass Ihnen dieser Gedanke fremd ist, aber ich muss so denken. Die Sicherheit des Kaisers ist meine höchste Aufgabe. Ich bürge mit meinem Leben dafür. Ich werde mich entleiben müssen, sollte dem Mann etwas zustoßen.“
„Machen Sie nicht mich dafür verantwortlich, dass Sie Selbstmord begehen müssen, nur weil es so im Protokoll steht!“, herrschte Lischka den Leutnant an, doch der lächelte nur milde.
„Mir ist klar, dass Sie bei Ihrem Posten keinerlei Verständnis für die ungeheure Wichtigkeit dieser Angelegenheit haben. Es wird Zeit, dass sich Männer einschalten, die mehr von den komplexen Verwicklungen verstehen, was meinen Sie?“
„Was für komplexe Verwicklungen, Herrgott!“, rief Lischka. Er konnte es nicht fassen, dass dieser Lackaffe ihn derart maßregelte. „Sie glauben doch nicht im Ernst, dass der Täter jetzt anfängt, sich bis zu Franz Joseph hochzumorden, nur weil drei russische Botschaftskinder zufällig in sein künstlerisches Schema gepasst haben!“
„Und wer sagt Ihnen, dass es nicht so ist?“, antwortete Tscherba seelenruhig. „Haben Sie denn nicht bedacht, was das Kunsthistorische Museum – sollte der Hinweis Ihres Informanten stimmen – dabei für eine Rolle spielt? Es ist die Galerie des Kaiserhauses. Die Gemälde darin stammen allesamt aus der Familie der Habsburger. Kein Museum der Welt ist so eng mit einem Herrschergeschlecht verbunden wie unseres in Wien. Wer sich Bilder aus dem Kunsthistorischen Museum heraussucht, um sie in blutige Morde umzusetzen, mordet nicht einfach nur Menschen. Es ist gleichzeitig ein Anschlag auf das Haus Habsburg.“
Lischka wurde fast schwindelig von den gedanklichen Kapriolen Tscherbas. Gleichzeitig musste er sich eingestehen, dass dieser recht haben könnte. Die Morde verwandelten Gemälde in Tatorte. Vielleicht war es aber noch mehr. Ein verstecktes Attentat auf eine repräsentative Einrichtung der Monarchie. Und dann musste Leutnant Tscherba natürlich in letzter Konsequenz an die Sicherheit des Kaisers denken. Zerknirscht nickte er.
„Schön, dass Sie das verstehen!“, fuhr der andere fort. „Dann wird es Ihnen sicherlich auch einleuchten, dass ich diese neuen Erkenntnisse dem Kaiser zutragen muss. Er soll erfahren, was in seinem Museum vorgeht. Wahrscheinlich wird er die Schließung des Hauses befehlen. Zeitweise, versteht sich. Bis wir den Mörder haben. Bis Sie den Mörder haben, Lischka. Woran scheitern die Ermittlungen denn bisher?“ Tscherba beugte sich vor und sah Lischka interessiert an. Sein Gesicht wurde hart, und plötzlich fühlte der Inspektor sich alt und krank.
„Leutnant, wir können erst jetzt, wo wir diese Informationen haben, in die entsprechende Richtung ermitteln. Bisher haben wir angenommen, dass der Mörder …“, er suchte nach Worten. „… dass er eine Art rituell vorgehender Täter ist. Es scheint keine Verbindung zu geben zwischen den Opfern. Die Frau, die er mit der Schlange getötet hat, war eine alleinstehende, ärmliche Putzmacherin …“
Tscherba schüttelte ungeduldig den Kopf. Er zückte seinen Stift erneut und begann, ein paar Stichworte auf ein Blatt Papier zu schreiben.
„Die Wiener sind äußerst beunruhigt über diese grausigen Ereignisse. Und mit den Kindsmorden ist endgültig eine Stufe erreicht, wo die Menschen sich nicht mehr mit ein bisschen Polizeiarbeit und reißerischen Zeitungsartikeln zufriedengeben. Letztendlich ist doch unser Kaiser für alles verantwortlich, und die Menschen werden verlangen, dass er wenn möglich Verantwortung übernimmt.“
Lischka fragte sich, wie diese Verantwortung aussehen sollte. Er schätzte Franz Joseph als einen alterssturen und verbohrten Herrscher ein, dessen Handlungsfähigkeit längst in seinem dichten weißen Bart verwoben war und der lediglich von den ewig Gestrigen unterstützt wurde. Ein Mann, der die Zeitenwende verschlafen hatte. Ein Kaiser, der so erstarrt war in seinem Anspruch zu herrschen wie ein ausgestopfter Fasan. Wie sollte ein Monarch, der nicht einmal wusste, wie er die Bedürfnisse seiner Vielvölker-Schar befriedigen sollte, sich um einen verrückten Serienmörder kümmern?
„Sie werden
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