Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
Bild haften blieb wie eine Fliege am Honig. Und das war Luise von Schattenbach. Fast hätte er ein angewidertes Stöhnen ausgestoßen. Jetzt ergab auch ihre inquisitorische Befragung einen Sinn. Hübsch verpackt im Gewand der Verführung, um den ausgehungerten Trottel zum Reden zu bringen. Und plötzlich ergab es auch einen Sinn, dass Luise von Schattenbach seit diesem Tag nicht mehr im Museum aufgetaucht war.
Was führten diese Menschen im Schilde, die Julius immer mehr vorkamen wie Schauspieler, die ihn in ein Theaterstück hineinzogen, dessen Text er nicht kannte?
Als die Putzfrau wieder gegangen war und Julius den Ansturm einer Schulklasse überstanden hatte, die mit ihren Lehrern im Gleichschritt an den Gemälden vorbeimarschiert war wie eine kleine Armee, zog Julius seine Lupe aus der Tasche. Dann trat er vor Rubens’ Gemälde der Medusa und betrachtete die Oberflächenstruktur des Bildes zum ersten Mal in vollkommener Schärfe und Klarheit. Er konnte die glatte, feucht glänzende Textur der verknoteten Schlangenkörper erkennen. Die Leiber schienen so wirklich zu sein, als würden sie sich bewegen. Er konnte den schrecklichen Halsstumpf der Enthaupteten in seiner ganzen blutigen Röte sehen. Er sah das im Tode erblasste und erstarrte Antlitz des Kopfes, dessen Haut so gespannt wirkte, als würde man mit aller Macht an ihrer Kopfhaut ziehen. Er schauderte einmal mehr vor der gnadenlosen Meisterschaft von Rubens und seinem Kollegen Snyder, der als Tierspezialist die Schlangen gemalt hatte.
In diesem Moment brach ein kleines Lachen aus ihm hervor. Was bildete Grimminger sich denn ein? Er würde es niemals schaffen, die Oberflächenspannung von Medusas Haut so perfekt wiederzugeben! Es würde ihm nicht gelingen, die grausame Dynamik der entfliehenden Schlangenleiber in ihrem feuchten Schimmer und dem fast hörbaren Kriechen und Biegen zu kopieren. Niemals!
Die schollenförmigen Risse der Krakelüre waren auf dem hellen Steinplateau deutlich zu erkennen, ebenso auf Medusas leichenblasser Haut und über dem schneeweißen, faltigen Tuch im rechten Hintergrund.
Als Julius von dem Bild wegtrat, hatte sich die Landkarte der Krakelüre in sein Gedächtnis eingebrannt wie ein Geruch oder wie ein Gesicht. Nichts und niemand würde das Gesehene wieder löschen können.
XIII
Inspektor Lischka verfluchte sein Schicksal, in dieser Stadt und zu dieser Zeit ein Agent des k. u. k. Sicherheitsamtes zu sein, während ein derart unheimlicher Mörder sein Unwesen trieb. Ein Mörder, der unsichtbar zu sein schien, der keine Spuren hinterließ und zu dem es keinerlei Hinweise gab.
Der letzte Mord an den drei Kindern des russischen Botschafters hatte jedoch eine Wende in der Ermittlungsarbeit herbeigeführt. Allerdings nicht zum Guten.
Inspektor Lischka hatte eine Woche nach dem schrecklichen Ereignis eine Einladung in die Hofburg erhalten. Nicht etwa vom Kaiser, damit der dem ratlosen Inspektor Mut zusprechen konnte, sondern von Leutnant Tscherba, dem Leiter der kaiserlichen Sicherheitsabteilung der Hofburg. Tscherba war der persönliche Sicherheitsberater des Kaisers und Vorsteher der Schlosspolizei. Er war zwar kein Vorgesetzter Lischkas, aber in diesem Fall konnte der Kaiser über seinen Sicherheitsberater Anweisungen an die gesamte Polizei Wiens übermitteln. Die Frage war nur, warum er es tat. Der Leiter der Sicherheitsabteilung der Hofburg oder von Schönbrunn schaltete sich eigentlich nur ein, wenn die Sicherheit von Franz Joseph selbst in Frage stand.
Lischka fragte sich, worauf das Gespräch hinauslaufen konnte. Mit Mühe unterdrückte er seinen Groll, als er vor der Hofburg aus der Droschke stieg. Die Straßen waren vereist, und auf den Laternen saßen die Tauben wie festgefroren. Aufgeplusterte Zuschauer, die rotäugig auf ihn herabblickten, wie um ihn an seine Unfähigkeit zu erinnern. Der Besuch passte Lischka überhaupt nicht. Er hatte sich für diesen Tag vorgenommen, die Frau von Hofrat von Schattenbach zu befragen, doch das würde warten müssen. Wenn die Stimme des Kaisers nach ihm verlangte, musste man ihr folgen.
Ein livrierter Diener führte den Inspektor in die Sicherheitsabteilung des Schlosses, wo er ihm in einem prunkvoll eingerichteten Bureau einen Stuhl anbot und ihn dort zu warten hieß. Nach einer Weile öffnete sich eine Seitentür, und ein junger Mann erschien. Er konnte kaum älter sein als dreißig, und Lischka erkannte mit einem unangenehmen Ziehen im Bauch, dass es Männer gab, die schon
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