Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
Mutter darauf zu sagen.
An diesem Tag war sie in das Magazin im Erdgeschoss eingeteilt worden, weil die zuständige Schwester eine Grippe hatte. Seit drei Stunden sortierte Johanna Kowac nun Verbandspäckchen, Flaschen, Instrumente und Gummischläuche in die vorgesehenen Fächer und führte Buch über deren Bestand. Und Doktor Wilhelm kam alle halbe Stunde herein und gab vor, irgendetwas zu suchen.
Dabei tat er so, als wäre es vollkommen unvermeidbar, sie dabei zu berühren, ihre Röcke zu streifen und ihr in den Nacken zu atmen. Johanna knallte ein kleines Ätherfläschchen auf die Stahlablage, so dass ein schepperndes Echo durch den Raum hallte, fuhr herum und starrte den Arzt an.
„Hat Ihnen noch niemand gesagt, dass Frauen diese Art der Annäherung plump und widerlich finden?“, fuhr sie ihn an. „Stellen Sie sich vor, sogar kleine ahnungslose Krankenschwestern empfinden das so. Also, wenn Sie hier drinnen etwas suchen, dann sagen Sie es mir, anstatt hier herumzustreichen wie ein Dieb!“
Dr. Wilhelm riss die Augen auf. Er war es wohl nicht gewohnt, gemaßregelt zu werden, erst recht nicht von einer ihm untergebenen Person. Im gleichen Moment wurde Johanna sich auch bewusst, dass er ihre Abfuhr persönlich nehmen konnte. Es kam oft vor, dass Schwestern, die sich gegen aufdringliche Vorgesetzte wehrten, schon am nächsten Tag entlassen wurden. Manchmal aus fadenscheinigen Gründen. Doch dann schien Dr. Wilhelm belustigt zu sein über ihre Gegenwehr. Er grinste herablassend und legte die Hände aneinander, als wollte er beten.
„Bittschön verzeihen Sie, Schwester Johanna. Aber diese weiße Schürze und das Häubchen schmeicheln Ihrer Schönheit derart, dass ich mich kaum …“
Sie ließ ihn nicht ausreden. „Es ist mir gleich, ob Sie eine Schwäche für weiße Häubchen haben. Lassen Sie mich einfach meine Arbeit tun!“
Mit Nachdruck knallte sie eine Schublade zu und fuhr mit der Inventur fort. Sie war stolz auf ihren Beruf. Erst seit kurzem gab es im Allgemeinen Krankenhaus das Pflegerinnen-Institut der Blauen Schwestern , den ersten Krankenwärterinnen, die nicht konfessionell gebunden waren und die nicht das schwarze Habit der Nonnen trugen. Aber Johanna hatte ihre Ausbildung schon früher durchlaufen, als man am Allgemeinen Krankenhaus wohl noch nicht im Traum daran dachte, offizielle Pflegerinnen auszubilden. Sie hatte im Rudolfinerhaus bei Theodor Billroth gelernt – der ersten interkonfessionellen Krankenpflegeschule Österreichs. Und Johanna war sehr stolz darauf, aus einer so fortschrittlichen Einrichtung zu kommen, die nicht unter dem Einfluss der Kirche stand. Und daher ärgerte sie es umso mehr, dass Ärzte wie Doktor Wilhelm anscheinend nur darauf gewartet zu haben schienen, Krankenschwestern ohne Nonnentracht um sich zu haben.
In diesem Augenblick ertönte auf dem Flur das Quietschen von gummierten Rädern und von Schritten. Eine männliche Stimme rief nach Dr. Wilhelm, und gleich darauf wurde auch nach ihr gerufen. Sie hastete nach draußen.
In die Ambulanzabteilung des Allgemeinen Krankenhauses wurden Tag und Nacht Menschen eingeliefert. Fabrikarbeiter, denen der Arm von einer Maschine zerquetscht worden war. Halb verhungerte Prostituierte. Kinder, die von ihren Eltern fast totgeprügelt worden waren. Säufer, die sich bei einem Sturz das Gesicht aufschlugen. Johanna war in der ersten Zeit dort beschäftigt. Mittlerweile arbeitete sie auf einer der Stationen für Schwerverletzte. Doch nun war sie hier und musste das tun, was sie gelernt hatte.
Zwei Sanitäter der Rettungsgesellschaft schoben eine Rollbahre in den Flur des Ambulanzraums, begleitet von einem schwarz gekleideten Mann mit Melone, der besorgt auf die Sanitäter einredete, ohne eine Antwort zu erhalten.
Dort angekommen, krempelte Dr. Wilhelm die Ärmel seiner weißen Jacke hoch und fragte: „Was ist mit ihm passiert?“
„Schwere Gehirnerschütterung“, sagte einer der Sanitäter.
„Danke, meine Diagnosen stelle ich schon selbst“, blaffte Doktor Wilhelm. „Also?“
Der Sanitäter verschränkte die Hände vor dem massigen Brustkorb und verdrehte die Augen. „Na, er war in Polizeigewahrsam, da haben s ’ uns hingerufen.“
„Und weiter?“
„Er hat viel Blut verloren.“
„Ist er unterwegs zu sich gekommen?“
Der Mann schüttelte den Kopf. Dann drehte er sich um und verließ mit seinem Kollegen den Ambulanzraum. Dr. Wilhelm setzte seine Brille auf und untersuchte den Mann auf der Bahre. Johanna trat
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