Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
zaghaft näher. Der Bewusstlose sah furchtbar aus. Sein ganzes Gesicht war mit Blut verkrustet, der Anzug ebenfalls … dieser Anzug. Johanna stutzte.
Dr. Wilhelm zog dem Mann die Augenlider hoch und richtete das Licht der Untersuchungslampe darauf. Die Pupillen zogen sich erschrocken zusammen. Er schien auch selbständig zu atmen. So weit gab es also keinen Grund zur Besorgnis.
„Holen Sie den Karbol-Irrigator und Kompressen, schnell!“, rief Dr. Wilhelm ihr zu, und Johanna hastete zu einem Schrank für die Notfallversorgung.
Ein Pfleger half dem Arzt, den Verletzten auf einen Operationstisch zu heben. Schlaff und totenbleich lag der Verunglückte nun vor ihnen.
„Rasieren Sie ihm die Haare da ab“, befahl Dr. Wilhelm.
Johanna nahm eine Schere und schnitt rasch die blutverkrusteten Haare an der Seite des Kopfes ab. Trotz des zerschundenen Gesichts kamen ihr diese Züge bekannt vor. Sie konzentrierte sich auf die Wunde und rasierte vorsichtig alle Haare darum herum. Dr. Wilhelm schob den Schlauch des Irrigators auf die Karbolflasche. Sie ließen die Flüssigkeit über die Wunde rieseln, bis das verkrustete Blut abgewaschen war.
„Ach du meine Güte“, murmelte der Arzt. „Der hat aber einen anständigen Schlag abbekommen.“
„Sagen Sie mir, ob er überlebt!“, rief in diesem Moment der schwarz gekleidete Mann aus dem Hintergrund.
„Sie müssen draußen warten, mein Herr“, sagte Johanna bestimmt und deutete auf die Tür. „Ich sage Ihnen Bescheid, wenn wir fertig sind. Bitte gehen Sie.“
„Ich bin Polizeiagent“, begehrte der Mann auf.
„Für uns hier sind Sie nur ein Keimträger. Wenn Sie also bitte hinausgehen würden.“
Johanna wandte sich wieder ihrem Patienten zu. Mit einem feuchten Wattebausch wischte sie über das Gesicht des Mannes. Ein Schauder erfasste sie, als sie begriff, wer da vor ihr lag. Dieser Anzug … dieser feingliedrige Mann. Und sie hatte so gehofft, dass er sich nicht in Schwierigkeiten bringen würde …
Dr. Wilhelm betastete den Schädel von Julius Pawalet und drückte gegen die Kopfhaut. „Wahrscheinlich kein Schädelbruch“, verkündete er. „Aber einen Riss im Knochen können wir nicht ausschließen. Ich werde einen Arzt vom Röntgenlaboratorium anrufen. Er wird absolute Ruhe brauchen. Lassen Sie uns diese Sauerei schön zunähen.“
Johanna holte eine sichelförmige Nadel und einen Faden, und Dr. Wilhelm nähte die klaffende Wunde routiniert zu. Sie stillte die Restblutung und legte Julius einen Verband an. „Sollten wir nicht versuchen, dass er wieder zu sich kommt?“, fragte sie.
„Sie nehmen ihn am besten mit sich hinauf auf die Station, wenn er vom Röntgen kommt. Geben Sie ihm Hirschhornsalz zum Einatmen, wenn er in seinem Bett liegt. Aber Sie müssen damit rechnen, dass er sich übergibt.“
„Danke, ich kenne die Symptome einer Gehirnerschütterung“, entgegnete Johanna knapp.
„Ich rede dann mit diesem Inspektor“, murmelte Dr. Wilhelm.
Johanna nickte, und gemeinsam hoben sie Julius Pawalet zurück auf die Rollbahre.
„Es tut mir leid, wenn ich Sie vorhin gekränkt habe“, sagte der Arzt.
Johanna nickte nur und schob den reglosen Körper hinaus. Sie übergab Julius Pawalet zwei Assistenten aus dem erst vor wenigen Jahren eingerichteten Röntgenlaboratorium und organisierte anschließend ein Bett auf der Station für Schwerverletzte.
Insgeheim hatte sie sich diesen Moment herbeigewünscht. Wider alle Vernunft hatte sie sich insgeheim vorgestellt, wie es wäre, wenn Julius Pawalet eines Tages ins Allgemeine Krankenhaus eingeliefert werden würde. In der Suppenküche war er nicht mehr aufgetaucht; demnach war sein Vorstellungsgespräch gut verlaufen, und er war nicht mehr angewiesen auf Almosen.
Die Tage nach ihrer ersten Begegnung hatte Johanna in einer schwärmerischen Stimmung für diesen eigenartigen Mann mit den schweren, einsamen Augen verbracht. Etwas an seinem forschen und gleichzeitig schüchternen Auftreten hatte sie gerührt.
Eine Stunde später wurde er aus der Röntgenabteilung zurückgebracht.
„Schwere Gehirnerschütterung, aber keine Verletzung am Schädel“, lautete die Diagnose. Sie schob ihn in einen großen Schlafsaal, in dem andere schwer verletzte Patienten versorgt wurden, die Betten durch dicke Vorhänge voneinander getrennt.
Johanna nahm ein Riechfläschchen und hielt es Julius unter die Nase. Nach wenigen Augenblicken schlug er die Augen auf. Er starrte sie ungläubig an, bevor ein erleichtertes
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